REINSTER SCHWACHSINN

■ „Wir - Das Parlament der Bäume“ von Ben Wargin in der Freien Volksbühne Berlin

Endlich zu Hause. Sanft wabern die Formaldehyd-Schwaden durch die modern gerichteten 57,3 Quadratmeter, auf deren Entstehungsgeschichte zu Beginn des 19. Jahrhunderts die mit Blättern, Blüten und Bordüren versehene Stuckrosette verweist. Unsichtbar verdichten die fortschreitenden Verbindungen des konservierenden Lösungsmittels die Atmosphäre. Lautlos schwebende Asbestfasern zeigen die Unaufdringlichkeit, mit der sich hier überall das 20. Jahrhundert seiner Traditionen versichert. Hier bin ich zu Hause. Hier endet mein Heuschnupfen. Hier endet meine Pollenallergie.

Die Katze tobt voller Freude auf gemeinsame Stunden mit mir im duftreichen und blütenweißen Katzenstreu und umschmeichelt hustend meine Füße. Wir entscheiden uns für eine entspannte Stunde auf dem Balkon, da trotz der späten Nachmittagszeit die Sonne noch einen Weg durchs Ozonloch gefunden hat. Wir zünden uns eine Zigarette an und nehmen die sachliche Information des Nachrichtensprechers zur Kenntnis, daß sich die Luft nur gering mit einer Schwefelverbindung angereichert hat. Schlechte Zeiten für das Geschwader von grünen und schwarzen Blattläusen, die mit den zartrosa und kräftig-lila Petunien eine ernstzunehmende, feine Lebensgemeinschaft eingegangen sind.

Mein Magen tut sich noch etwas schwer, mit den Schwermetallverbindungen und Pestiziden klarzukommen, die ich ihm heute in Form eines frischen Salates anbot, statt der lieb- und fleischgewordenen Hormone- und Antibiotika -Zufuhr. Gerade beginnt mein Kopf auf vertraute Weise zu schwindeln und den ersehnten Beginn der Entspannung einzuleiten, als mein Körper unvermittelt und selbständig meinen Adrenalinspiegel hochschnellen läßt, was mich natürlich erschreckt und mich zuerst fragen läßt, was ich vergessen habe, zu mir zu nehmen. Nichts, weiß ich dann sehr schnell deshalb, nur auf einen verdrängten Termin will er mich aufmerksam machen. Ich muß noch ins Theater.

Runter mit der Katze vom Schoß, raus aus dem Smog, hineingetreten ins Treibhausklima und in die Fahrradpedalen. Die zahllosen Beziner schneiden mich deutlich, aber freundlich und oft, wenn wir uns sehr nahe gekommen sind, zwinkern wir uns mit den Augen zu.

Dann sitze ich gut aufgetankt mit der Luft der Moderne in den traditionsreichen Hallen, in denen so oft und auf so theatralische Weise die menschliche Geschichte von Liebe, Leid und Haß erzählt wird. Nachdem sich der Saal verdunkelt hat, bevölkern rauhe Badewannen, Kindersärge, zusammengeschmiedete Aldi-Wagen, karge Gipsbäume, ferngelenkte Rollstühle und andere vertraute Gegenstände des Alltags die Bühne, um hier eine Geschichte neu zu erzählen, die ich schon kenne. Um mich Bilder meines Wachsens und Werdens neu sehen zu lassen, die mich täglich begleiten. Das finde ich nicht schön und spannend, weil außerdem die Schauspieler im Publikum sitzen und überhaupt keine unterhaltsame Geschichte spielen, sondern nur Worte rufen. Kurz vor Schluß kommt endlich ein einzelner Mann im weißen Overall des Bodenpersonals von Flughäfen auf die Bühne. Ich habe jetzt verstanden und denke gleich „Rammstein“, die Menschen im Saal flüstern aber „Wargin“. Das stimmt. Schade ist nur, daß auch er, wie alle seine Plastiker-Kollegen, kein richtiger, lebendiger Schauspieler ist. Er liest die Schlußworte meiner Formaldehyd-Geschichte und seiner Skulpturen noch einmal vom Blatt ab. Ich gehe nicht mehr in ein Theaterstück, wo die Schauspieler im Publikum sitzen.

reg