Tun wir zuviel, um die Natur zu retten?

■ Jose Lutzenberger wurde 1926 in Porto Alegre (Süd-Brasilien) als Sohn deutscher Eltern geboren. Nach dem Studium der Bodenkunde und Agrarchemie folgten fünf Jahre Praxis im Düngemittel-Handel. 1957 ging er zur BASF nach Ludwigshafen als Diplom-Landwirt und Techniker der Agrar-Chemie. Von 1959-66 arbeitete er als Konzern-Delegierter in Venezuela, danach in Marokko. 1970 kündigte er, um in Brasilien zum „grünen Gewissen“ und freien Berater in Sachen Umweltschutz zu konvertieren

Christa Ritter

Bis vor 17 Jahren waren Sie ein erfolgreicher Angestellter eines Chemie-Konzerns auf der Leiter nach oben. Warum haben Sie die Karriere abgebrochen?

Es kam der Moment, wo mir bewußt wurde, daß die Firma einen völlig falschen Weg geht, wenn der Profit ihr wichtigstes Anliegen ist. Mir wurde klar, daß ich mich prostituiere, wenn ich dabei mitmache und mein Leben mit etwas verdiene, womit ich nicht einverstanden bin. Ich selbst war auch schon fast ein Technokrat geworden. Ich bin dann zurück nach Brasilien gegangen, weil dort mein Elternhaus stand. Dort gingen mir die Augen auf, welch sinnlose Zerstörung der Natur vor allem durch den Mißbrauch von Pestiziden betrieben wurde. Damals gab es noch eine Militärdiktatur und die Medien wagten keine Kritik. Ich war aber keinesfalls eingeschüchtert und habe als erster öffentlich die Zustände der Natursterbens kritisiert. Darauf stürzten sich die Medien und halfen mir. Sie hielten mich wahrscheinlich für einen Don Quichote. Wir gründeten eine Umwelt -Bürgerinitiative und seitdem hat der ökologische Kampf nicht aufgehört. Ich bin heute ein anerkannter Umweltkämpfer.

Wie lautet Ihre Kritik?

Wir brauchen heute eine politische Kritik der Technologie. Die Technologie stellt uns jede neue Technologie vor, als basierte sie auf unumstößlichen Naturgesetzen, gegen die man nichts machen kann. Wenn irgendwo eine Hausfrau gegen ein Kernkraftwerk demonstriert, heißt es: Ach, die versteht nichts davon, die ist ja so emotional. Man müsse die Probleme sachlich diskutieren und das könne eine Hausfrau nicht. Dabei kann sie das sehr wohl, denn es geht um ihr Leben und das ihrer Kinder. Ich sehe das so: Wenn uns die Welt weh tut, müssen wir uns ändern, nicht die Welt. Aber es wird so getan, als sei Technologie wertfrei und identisch mit Wissenschaft. Dabei sind die meisten, die sich heute Wissenschaftler nennen, Entwicklungstechniker.

Worin liegt der Irrtum?

Ich befasse mich schon lange mit der selbstmörderischen Philosophie der Industriegesellschaft und ihrer Machtfixierung. Diese Philosophie konnte nur aus dem Christentum entstehen, nie zum Beispiel aus dem Buddhismus. Warum haben die Chinesen, obwohl sie doch schon vor tausend Jahren das Schießpulver entdeckt haben, diese Entdeckung anders 'mißbraucht‘? Die Chinesen sind Buddhisten und haben eine holistische Sicht, wir dagegen eine dualistische. Nach unserem Konzept steht der Schöpfer außerhalb und über der Natur. Er hat sie geschaffen, fast zum eigenen Vergnügen. In dem Moment, wo ich mir einen Schöpfer vorstelle, habe ich die Natur enteint. Sie ist nur noch ein Hintergrund. Für uns ist Gott heilig und die Welt profan. Und wir Menschen stehen in der christlichen Religion irgendwo dazwischen. Unsere Ethik schließt nur die Beziehung Mensch-Mensch und Mensch -Gott ein. Wenn wir uns Materialisten, Marxisten oder Atheisten nennen, ist es noch schlimmer. Dann gibt es nur noch die Beziehung Mensch-Mensch. Für Buddhisten oder Animisten schließt dagegen die Ethik alles ein. Wenn der Indianer einen Baumriesen fällt, um ein Boot zu bauen, ist das für ihn ein heiliger Akt. Er macht daraus ein Fest und bittet dieses großartige Geschöpf um Verzeihung. Mit dieser Einstellung zur Welt wird er nie eine Motorsäge erfinden. Das wird nur ein Mensch tun, der den Wald so schnell wie möglich vernichten will. Dahinter steckt die Einstellung, dieses Leben sei nur eine Prüfung für ein anderes Leben und eigentlich das reinste Jammertal. Der Indianer dagegen genießt die Welt und nimmt an ihr teil. Wir nennen uns Materialisten und sind es gar nicht, denn sonst würden wir sie nicht so kaputt machen. Dabei ist die Materie unglaublich komplex (und beinhaltet sogar auch Frauen, auch wenn sie hier wieder einmal in der Sprache ausgelassen werden, die Säzzerin) und im Grunde esoterisch. Und je mehr man darüber weiß, umso zauberhafter wird die Welt.

Wie wird Ihre Arbeit praktisch?

Ich diskutiere mit den Technokraten das Grundparadigma, ihre Grundpostulate. Das Problem: sie gehen von einem Feindbild aus. Ein Schädling - Blattlaus, Raupe, Pilze oder Viren - sollte besser gar nicht existieren und muß ausgemerzt werden. Für mich ist sowas Blasphemie. Ein Prozeß wie die organische Evolution mit dieser Vielfalt von Lebenwesen, dreieinhalb Milliarden Jahre alt, ist eine phantastische Sache. Das soll falsch sein? Da sind wir falsch! Leben kann nicht falsch sein. Der Schädling ist nämlich ein Thermometer, ein biologischer Indikator, der mir sagt, daß mit meiner Pflanze etwas nicht stimmt. Wenn auf meiner Tomate ein Schädling sitzt, habe ich einen Fehler gemacht. Denn auf einer gesunden Pflanze breitet sich ein Schädling nicht so aus, daß er sie schädigt. Wenn der Schädling wirklich ein Feind wäre, gäb's schon lange kein Leben mehr auf diesem Planeten. Früher versuchten die Chemie -Technokraten, mir einen Prozeß anzuhängen. Inzwischen gehen sie der Diskussion lieber aus dem Weg. Mich interessiert auch der Kampf gegen die Chemie nur noch nebenbei. Wichtig ist mir, eine gesunde Landwirtschaft zu fördern, die nachhaltig ist: den regenerativen Landbau. Die meisten Agraringenieure haben auch schon verstanden, wie schädlich die Gifte sind. Aber es gibt immer noch Leute auf der Welt, die sich nur fragen: Wie können wir die Gifte vernünftiger verwenden? Ihr Dogma: Um Nahrungsmittel zu produzieren, muß man zu Gift greifen. Ein verrückter Widerspruch! Anstatt also die Bauern zu weniger giftigen Mitteln wie Herbiziden zu überreden, erzähle ich ihnen vom natürlichen Weg. Laßt mal die wasserlöslichen Düngemittel weg. Unter den Kaffeepflanzen wächst stattdessen eine schöne grüne Decke von Gräsern und Leguminosen (zum Beispiel Klee, Wicken). Und damit ihr nicht mähen müßt, könnt ihr Schafe halten. Statt Kosten für Gifte hat der Bauer dann Fleisch und Wolle. Die Schafe gehen nicht an die Kaffeepflanzen ran und die Schädlinge verschwinden ganz von selbst.

Die Technik sucht Instrumente, um Willen auszudrücken. Das ist keine kontemplative, sondern eine dominante Einstellung. Der Techniker geht von einer Arroganz aus: Er will die Welt ändern, er will Macht.

Angenommen, ich stehe als Wissenschaftler vor dem Zuckerhut in Rio: Ich wundere mich über diese phantastische Sache und versuche zu verstehen. Zuerst befasse ich mich mit der Entwicklung des Berges und gehe dann zurück bis zur Entstehung der Erde. Je mehr ich darüber nachdenke, umso mehr wundere ich mich und liebe den Berg. Ich möchte ihn schützen. Der Technokrat schaut sich den Berg an und sagt sich: Was kann ich damit machen? Sind da vielleicht Erze zu finden, mit denen ich Geld verdienen kann? Oder will ich den Berg abbauen und die Bucht damit füllen.? Der eine will schauen, der andere ändern.

Welche persönlichen Erfahrungen machten Sie mit dieser Sicht?

Als ich 40 Jahre alt war, dachte ich: Wenn du morgen verschwindest, hast du nichts zu bereuen. Ich hab‘ soviel gesehen und verstanden. Das Universum ist einmalig. Das hat mir Seelenruhe gegeben. Vielleicht liegt darin der Unterschied zu meiner Frau. Sie hat sich immer gern geärgert, auch über Unwichtiges. Ich dagegen bin ein Mensch, der im Moment der Auseinandersetzung seinen Emotionen freien Lauf läßt. Ich schimpfe, schreie, fluche, heule. Hinterher schalte ich ab und bin wieder ruhig. Ich habe nie schlechte Träume, eher konstruktive, auch Visionen. Alle können ein schönes Leben haben. Heute verzichten wir dauernd. In der Industriegesellschaft sind wir ständig eigenen Zwängen unterworfen. Vielleicht ging es meiner Frau ähnlich. Einerseits war sie ein sehr lebensfroher Mensch, andererseits neigte sie zu Depressionen. Möglich, daß der Krebs dadurch begünstigt wurde. Meine Frau ist im Alter von nur 52 Jahren an Krebs gestorben.

Warum arbeiten Sie so viel?

Weil ich häufig doch verzweifelt bin, wenn ich sehe, was der heutige Mensch anrichtet. Wenn ich sehe, wie hunderttausende Quadratkilometer Urwald vernichtet werden. Diese komplexe, harmonische Welt wird kaputt gemacht, irreversibel ausgelöscht. Darüber kann ich verzweifeln. Trotzdem war ich immer ein sehr glücklicher Mensch im Sinne von 'Glück haben‘. Ich hatte immer so viel Neues vor mir. Solange ich was ändern kann, bringe ich jede Energie auf. Aber wenn's nicht geht: weg, vergessen. Es wäre irrational, mich weiter über etwas aufzuregen, was vorbei ist. Da überleg‘ ich mir lieber, was als Nächstes kommt.

Was bedeutet für Sie der Tod?

Ich habe Angst vor den Schmerzen des Todes, vor dem Tod selbst nicht. All die Milliarden Jahre vor mir war ich ja auch nicht da. Oder zumindest kann ich mich nicht daran erinnern. Selbst wenn es eine Seelenwanderung gibt, nützt das mir nichts, solange ich mich nicht erinnere. Natürlich würde ich gern länger leben, denn jeder zusätzliche Tag ist großartig, solange man einigermaßen gesund ist. Als junger Mann war ich manchmal depremiert und einmal kurz vor dem Selbstmord. Grübelnd lief ich eine Straße entlang, da kam mir ein Mann entgegen. Er hatte beide Beine und einen Arm verloren und saß auf einer kleinen Plattform mit Rädern. Er bewegte sich mit einem Stock. Dieser Mann hatte ein schönes Lächeln im Gesicht. Ich fragte mich: Wenn der lächeln kann, worüber weine ich? Plötzlich wußte ich gar nicht mehr, warum ich deprimiert war. Dieses Erlebnis hat mich geprägt. Es hat keinen Sinn, daß man sich quält. Die meisten Qualen fügen sich die Menschen selber zu.