Konformismus-betr.: "Moskau grau", taz vom 3.9.88

Betr.: „Moskau grau,

taz vom 3.9.88, S.17

Warum ist Moskau grau? Die naheliegende Antwort, die ich aufgrund meiner Erfahrungen und nach mehrmonatigen Aufenthalten in Moskau als Gegenmeinung zu Kurt Schlögel vertrete, ist, daß die sowjetische Gesellschaft konformistischer ist als die westliche, und daß politischer Konformismus mit gesellschaftlichem einhergeht. Schlögel macht sehr schöne Alltagsbeobachtungen, scheint aber die dahinterstehende Realität nicht voll zu durchschauen.

Dort, wo die Politik mittels totaler Macht in alle Lebensbereiche eindringt, kann ein Mensch nicht als Privatmensch existieren, sondern stellt nur eine, sich an vorgegebene Formen orientierende, Marionettenfigur dar. Für diese Ordnung sorgt u.a. die Miliz. Es gibt, im Gegensatz zu der vom Autor gemachten Beobachtung, eine deutliche Kluft zwischen dem Ordnungsapparat und der Bevölkerung, die allerdings nur selten so deutlich zutage tritt wie bei Konflikten im Westen. Die Miliz wird klar als staatliche Gewalt wahrgenommen und ist auch unerkannt stets präsent. Man muß sich bewußt sein, daß ein Milizionär nicht immer Uniform trägt, denn jeder Sowjetbürger kann für einige Zeit als anonymer Beobachter in Zivil verpflichtet werden. Die Parteileitung der Arbeitskollektive fordert solche Arbeit und verurteilt eine ablehnende Haltung. Eine solche Verpflichtung ist durchaus mit Vorteilen verbunden, etwa in Gestalt von mehr Urlaubstagen, einer günstigen Erholungsreise oder dem Bezug von Waren.

Solche Vorteile sind wichtig in einer Gesellschaft, die die Verteilung der Güter keineswegs geregelt hat, sondern in der Vieles in verborgenen Kanälen verteilt wird.

Ein solches Arbeitskollektiv existiert kaum als Solidargemeinschaft, sondern vielmehr als Hölle. Man wird ständig beobachtet, in seinen Gesten, Worten, Kleidung und Benehmen. Um nicht abgestempelt und auffällig zu werden, trägt man dann ein gleichgültiges, neutrales und graues Äußeres zur Schau.

Diese graue Farbe betrifft nur die Männer. Sie gelten als Krone der Schöpfung. Die Frauen sind Genußobjekte und Diener des Mannes. Um die erste Funktion auszufüllen, wenden sie sehr viel auf für Kleidung, Parfüm, das Färben des Gesichts, auffällige Lippenstifte und Nagellacke, sowie grünen, blauen oder lila Augenlidern. Hauptanliegen ist es, hierfür Utensilien aus dem Ausland zu erlangen und zu zeigen. Eine Frau hat um einen Mann zu kämpfen, mit viel mehr Verführungsmethoden als im Westen. Schon hierbei erscheinen sie als Gegenstände, was noch auffälliger wird, wenn man den Tagesablauf einer Frau ansieht. Eine Frau steht um fünf Uhr auf, macht warmes Frühstück und geht dann arbeiten. Um bei den großen Entfernungen dorthin zu gelangen, ist sie meist auf überfüllte und unregelmäßige Busse angewiesen, für deren Benutzung sie schon ein artistischer Ellenbogenmensch sein muß. Wenn eine Familie über ein Auto verfügt, so steht es natürlich dem Mann zur Verfügung. Nach der Arbeit steht eine Frau überall beim Einkaufen Schlange und kommt etwa um halb acht nach Hause. Dort macht sie ein warmes Abendessen, wäscht, spült und putzt bis um Eins.

Die Männer sehen inzwischen fern, oder sie lesen die Zeitung. Dies ist wohl kaum als Emanzipation der Frau, sondern nur als Depotenzierung des Mannes zu sehen, die aber weiterhin als höherwertiges Wesen auf die Frau herabschauen. Dies gilt für die meisten Teile der Gesellschaft, auch intellektuelle Oppositionelle verhalten sich entsprechend.

Schließlich muß das, was K.S. über vereinzelt anzutreffende „verrückte Typen“ schreibt, angesichts der Tatsache gesehen werden, daß diese Menschen ungewöhnliche Situationen meist nicht selbst wählen, sondern dorthin geschickt werden.

Auch kann ich nicht die Meinung vertreten, „der Sowjetmensch wird von der Gesellschaft allein gelassen.“ Der Sowjetbürger ist ein absoluter Diener seines Staates und der Gesellschaft. Sein Hauptantriebsmotiv bilden auf Plakaten oftmals zu lesende Parolen, die nur besagen: „Unsere große Heimat.“

Eva S., Hamburg