Der Rückzug der Regisseure

■ Ein paar Nachbemerkungen zum diesjährigen Theaterfestival in Avignon

Klaus Gronau

An der Bühnenrückwand groß die Porträts von Lenin und Stalin. Davor, mit einem Rednerpult zur Linken, ein langer Konferenztisch, an dem die elf Darsteller Platz nehmen, um in den Rollen einiger berühmter sowjetischer (Theater-) Künstler (Stanislawski, Meyerhold, Eisenstein, Tretjakow und anderer) sowie nicht weniger namhafter Exilierter (Piscator, Brecht) eine Debatte über den chinesischen Schauspieler Mei Lan Fang vorzuführen. Clou dieses fiktiven Dokumentarstücks, das im Jahre 1935 in Moskau spielt: Die Schauspieler der Aufführung in Avignon sind selbst in ihrer Mehrzahl Starregisseure und -kritiker des heutigen französischen Theaters. Les Apprentis sorciers (Die Zauberlehrlinge, abgedruckt in 'Lettre International‘ Nr.17) von Lars Kleberg, in der Regie von Antoine Vitez, dem neuen Chef der Comedie Fran?aise - für mich die Schlüsselinszenierung des diesjährigen 41.Festivals.

Man hat Vitez vorgeworfen, er habe sich für dieses Stück selbst die schönste Rolle reserviert. Zu Unrecht, denn sie kommt ihm ganz einfach zu, schon weil er sie überaus nuanciert und mit einem gehörigen Schuß (Selbst-?)Ironie anlegte: Wer ihn im letzten Jahr in Verger Urbain V (Avignons „Hyde Park Corner“) mit Emphase tönen hörte, er habe „schon immer“ (will sagen: auch in den wilden sechziger/siebziger Jahren) darauf bestanden, daß das Theater eine Kunst sei, konnte sich itzo nur daran freuen, wie er seinen Stanislawski mehrfach wiederholen ließ, für ihn werde Theater mit einem großen T geschrieben. (Dazu malte der Russischkenner Vitez natürlich mit der Hand ein M in die Luft!)

Die Regisseure als Meisterschauspieler: Dieses Ereignis tritt just in dem Augenblick ein, in dem ihre nun seit Jahrzehnten gewohnte Rolle von den Adepten einer neuen Doktrin in Frage gestellt wird. „Heute soll ein Regisseur keine Ideen mehr haben“, befand schon im Frühjahr 1987 die von Vitez herausgegebene Revue 'L'Art du theatre‘ (Die Kunst des Theaters: großes A, kleines t!). Die neuen Parolen lauten seither „Konzentration auf die Arbeit der Schauspieler“ und „Treue zum Text“. Leise schmerzliches Zusammenzucken bei allen, denen aus den germanistischen Seminaren der bereits angesprochenen „wilden Jahre“ noch die positivistischen Schlagworte von „Unvoreingenommenheit“ und „Ideologiefreiheit“ in den Ohren klingen. Im Juli 1988 in Avignon hallte es zurück: „Keine Interpretationen mehr, wir haben zu viel interpretiert“, so der Schauspieler Maurice Benichou, der im offiziellen Festivalprogramm Tschechows Drei Schwestern inszenierte, und Luc Bondy, der mit Shakespeares Wintermärchen aus Nanterre kam, in einmütiger Reue.

Erinnern wir uns: Vor rund 20 Jahren wurde gegen die zur einseitigen und dogmatischen Sinnfestlegung neigende literarische „Werkinterpretation“ die Vieldeutigkeit der Texte, die Geschichtlichkeit ihrer Rezeption ins Feld geführt. Damit war - wenn die Theaterarbeit einer solchen bedurfte - die theoretische Basis geschaffen für eine Art von Inszenierung, bei der der Regisseur ausdrücklich seine persönliche Version lieferte - bekanntlich leider nur im Glücksfall in Kooperation mit den Schauspielern und in „Übereinstimmung mit dem Text“: will sagen, mit dem, was Publikum und Kritik an (Neu-)Deutung akzeptieren mochten. Dem Prinzip nach (und oft auch in der Praxis) mündete seine Arbeit in einer Diskussion - und daß nicht selten empörte Zuschauer und Kritiker ihm ihre eigene Meinung um die Ohren schlugen, vergessen (oder unterschlagen?) die, die heute von einer einst „legitimen Willkür der Regisseure“ fabulieren, an deren Stelle nunmehr der „Verzicht auf Ideen“ zu treten habe.

Führte das „Recht auf eigene Interpretation“ bei einem mittelmäßigen Regisseur vormals zu krassen „Fehldeutungen“ (daß heißt wenig überzeugenden, wo nicht schlicht dummen Ideen), die wohl gelegentlich einen oberflächlichen Skandal auslösen konnten, wenn man sie nicht einfach schnell wieder vergaß, so bringt uns dessen „Verzicht auf Ideen“ unfehlbar und geschwinde zurück ins herkömmlichste Provinztheater. Bei den Könnern des Fachs dagegen, die einst mit „guten“ Ideen produktive Kontroversen auszulösen vermochten, führt dieser Verzicht zu prachtvollem „neuem Staatstheater“, zu dem aber außer „prachtvoll“ häufig nicht mehr viel zu sagen ist, und dessen Inszenierungen sich zu ähneln beginnen wie die neuromanischen Bögen postmoderner Bauten der großen Städte in aller Welt.

Mit ihrer „neuen Enthaltsamkeit“ beanspruchen die (paradoxerweise darum noch nicht unbedingt weniger tyrannischen) Regisseure den Status des vieldeutigen „offenen Kunstwerks“ (U.Eco) nunmehr für ihre Inszenierung und überlassen die Tätigkeit der Deutung den unversehens für mündig erklärten Zuschauern. Diese aber husten uns eins: Sie interpretieren nicht - allenfalls der eine oder andere, für sich in seinem Dachstübchen, wer vermöchte das zu sagen? Sie vergnügen sich. Und bewundern! Keine Diskussion?

Das ist nun ein weiterer Grund, warum mir Kleberg/Vitez‘ Zauberlehrlinge besonders aufschlußreich scheinen: Sie bringen eine historische Debatte auf die Bühne zu einem Zeitpunkt, wo es keine Debatten mehr gibt, wo - in Avignon wie beim Berliner Theatertreffen (vgl. A.Widmann in der taz vom 27.Mai 1988) - die sprachlos beifallklatschende Begeisterung an die Stelle der Diskussion getreten ist.

Genauer gesagt, geht es in diesem Stück um das Ende einer Debatte: die Zauberlehrlinge tragen die kunsttheoretischen Positionen der europäischen Linken aus der ersten Hälfte unseres Jahrhunderts vor, die dann mit dem eisernen Besen der Doktrin des sozialistischen Realismus in die Ecke gefegt wurden.

Das Programmblatt beteuert, diese „Fabel über Kunst und Politik“ beinhalte „keine Lehre, außer der Erinnerung“. Klebergs Text zeigt, wie jeder der Diskussionsteilnehnmer aus der Kunst des chinesischen Schauspielers das für seine eigene Position Passende herausliest. Vitez‘ Regie fügt für jeden kleine persönliche Ticks hinzu. So liefern die beiden im Grunde die Parodie einer Debatte, deren Teilnehmer große Themen erörtern, progressive Ideen verteidigen und blind sind für das, was ihnen droht - und zu guter Letzt ist über allem Reden der gefeierte Mei Lan Fang auch schon abgereist! Dennoch aber - und vielleicht sogar ungewollt - vermittelt ihre Aufführung auch die nostalgische Erinnerung an eine mit Sachkenntnis und durchdachten Begriffen geführte Diskussion.

Im Palais de l'Ancien Archeveche war während des Festivals eine Ausstellung über Mai 68 en Avignon zu sehen. Neben den damaligen Protagonisten Villar und Bejart, Julian Beck und seinem Living Theatre, den Lokalautoren Gerad Gelas und Andre Benedetto zeigten diese Fotos die Atmosphäre in jenem Sommer: leidenschaftliche Diskussionen überall. Aber eben auch viele, viele Polizisten. Und auch sonst gibt es gewiß keinen Grund zur Verklärung: Bei den Debatten jener Zeit ging bekanntlich die Sachkenntnis vielfach auch nicht über die auswendig gelernten Zitate aus den diversen roten Bibeln der rivalisierenden Grüppchen hinaus.

Doch heute gehen in allen Theatern und Spielstätten die Zuschauer nach dem immer starken Schlußbeifall zufrieden nach Hause. Die Diskussionen sind ausgelagert in spezialisierte Kolloquien, von denen es inzwischen so viele gibt, daß ein Witzbold auf einer Pressekonferenz ankündigte, er suche einen Sponsor für ein Festival der Kolloquien! Und die Begegnungen zwischen Theatermachern und Publikum im Verger Urbain V sind - wie beim Abschlußgespräch mit dem Leitungsteam des Festivals beklagt wurde - zum reinen Ritual geworden, dessen analytisches Niveau meist über die von Chereau bespöttelte „ewige Frage“ nicht hinausreicht letzterer leistete sich übrigens den Luxus, zu zwei angekündigten Diskussionsterminen gar nicht erst zu erscheinen.

Bei einigen Gesprächen konnte man den Eindruck gewinnen, daß bei den Theatermachern mit der Interpretation auch die kritische Reflexion über die Mittel und Implikationen der eigenen Arbeit aus der Mode gekommen ist. Doch wenn zum Beispiel ein Regisseur „unschuldig“ daherplaudert, man habe für sein Spektakel ein Haus im Zentrum gemietet, das sonst leersteht, stört kein Festivalbesucher den guten Ton auch nur mit einer Frage nach Wohnsituation und Mietpreisen in Avignon. Es ist, als ob die Zuschauer, von der Bedeutung der auf dem Podium hockenden (und natürlich extrem lockeren ) „Meister“ schon vorab überzeugt, sich allenfalls noch zu vergewissern trauten, wie sich denn diese - eine weitere Standardfrage - „auf der Bühne gefühlt haben“. Vor dem Lampenfieber sind alle gleich. Im Stich gelassen

Die neue Zurückhaltung der Regisseure, ihre Aufmerksamkeit für die Arbeit der Schauspieler kann natürlich zu eindrucksvollen Ergebnissen führen, wo die Darsteller selbst genügend Persönlichkeit und technisches Können mitbringen, um ihre Rolle überzeugend zu gestalten. Das war in Chereaus Hamlet, der diesjährigen Hauptinszenierung des Festival d'Avignon im Ehrenhof des Papstpalastes, vor allem der Fall bei Gerard Desarthes, der den Titelhelden mit einer klugen Distanz und einer nicht selten einfach hinreißenden Variabilität des Tonfalls spielte. Berhard Ballet als Polonius brillierte mit seiner Karikatur des radfahrenden Höflings.

Der weitgehende Verzicht auf Interpretation und orientierende Ideen bereitete jedoch einigen Schauspielern sichtlich Schwierigkeiten. Die Mehrzahl der Darsteller in Hamlet brüllte den Text heraus - ein hilfloser Versuch, im Freilufttheater des Papstpalastes auch noch von den Zuschauern auf den letzten Rängen verstanden zu werden, oder letztes Rettungsmittel von Darstellern, denen die Regie innerhalb der Inszenierung keinen klaren Platz zugewiesen hat? Robin Renucci, der den Brudermörder und Usurpator Claudius spielte und mit der Gestaltung dieser schwierigen Rolle eines von Reue geplagten Missetäters offenkundig Probleme hatte, fühlte sich - laut Kurzinterview in 'Liberation‘ (14.Juli 1988) - vom Regisseur im Stich gelassen.

Kein Wunder also, daß nach einhelliger Meinung der Kritik die eigentliche Meisterleistung dieser Inszenierung das Bühnenbild von Richard Peduzzi darstellte. Der Nachwuchs

Wer vor dem nostalgisch getönten Neoklassizismus des „Neuen Staatstheaters“ verständnislos staunend gestanden oder sich, unverbesserlich, gar zurückgesehnt hatte nach jener zuweilen doch herzerfrischenden Respektlosigkeit der Theaterleute in früheren Jahren, dem geriet in Avignon die Aufführung des Neuen Menoza von J.M.R.Lenz zum wahren Seelenschmaus. Ein Nachwuchsregisseur, der 24jährige Francois Rancillac, brachte sie auf die Bühne - er durfte, als Preis für seinen Sieg beim 1987 letztmalig ausgetragenen Pariser Wettbewerb Printemps du Theatre (Theaterfrühling) dieses Jahr im offiziellen Festivalprogramm ein Stück seiner Wahl inszenieren.

Der junge Regisseur und seine Schauspieler lösten die schwierige Aufgabe, die sie sich mit der Ausgrabung jener bizarren Sturm-und-Drang-Tragikomödie gestellt hatten, überwiegend mit Turbulenz und Ironie. Das begann beim entschlossen kitschigen Dekor (Didier Gord) und den phantasievoll-karikaturalen Kostümen (Pascale Lavandier) und setzte sich fort in der Spielweise: im übertrieben ausgespielten Pathos, im fröhlichen Anachronismus, in der gezielten Aggression gegen Zuschauer. Alles in allem Mittel, mit denen etliche der heute führenden Regisseure einst anfingen, in jenen „wilden Jahren“, als man den Klassikern mit der Respektlosigkeit von Studentenulks ihre Aura wegputzte. Die französische Kritik versäumte nicht, Rancillac und seine Getreuen unsanft darauf zu stoßen, wie sehr diese Haltung heute aus der Mode gekommen ist: Sie vermisse die „tragischen Töne“ und erging sich in literaturhistorischen Lektionen. Auf die hatte der junge Regisseur, gestützt auf den Autor, freilich schon vorab geantwortet: In der letzten Szene verfolgt ein erboster Vater seinen prätentiös „gebildeten“ Sohn, der ihm mit seinen gelehrten Phrasen das Vergnügen am Marionettenspiel verdorben hat, mit einem großen Knüppel!

In der Diskussion mit dem Publikum wußte Rancillac seine Interpretation des Stückes mit sanfteren Argumenten zu verteidigen. In entschiedener Opposition zur Tradition des französischen Klassizismus habe Lenz die Karikatur einer aus den Fugen geratenen Welt geliefert, in der das Tragische unübersehbarer Bestandteil, jedoch wie im wirklichen Leben stets mit dem Banalen, Abstrusen, Komischen vermischt sei. Keineswegs gehe es ihm um bloßes Amüsement: Die Leiden der jugendlichen Liebenden in einer von Unaufrichtigkeit und eigennütziger Ränke beherrschten Gesellschaft, die das Stück vorführe, beinhalteten ein Stück ernsthafter Kritik. Generell halte er nichts davon, seine persönliche Sicht als Regisseur hinter einer vorgeschützten „Treue zum Text“ zu verbergen. Und das spontane, „unkomplizierte Vergnügen“ des Publikums, das nach keiner weiteren Begründung fragt und daher im Bedarfsfalle auch keine zu geben vermag, sei für ihn keine gescheite Alternative zur gelehrten Geschwätzigkeit der Experten. Also vielleicht doch eine Hoffnung für die Erneuerung des Regietheaters in Frankreich?