Der Vergangenheit näher als der Zukunft

Auf der Loccumer Tagung „Die Philosophie der Vierzigjährigen“ tat sich die 68er Generation schwer mit den Lebensperspektiven und schwelgte lieber in Erinnerungen / Die gelernte Bescheidenheit als Schutzwall für die eigene Bequemlichkeit / Wären nicht die Frauen, die Resignation hätte überwogen  ■  Aus Loccum Vera Gaserow

„Wir haben viele Angriffe gestartet, Bastionen eingerannt, aber kein Terrain erobert“, „Wir sind die Verlustgeneration, die auf die Nase gefallen ist“, „Wir sind die Sandwich -Generation, eingepreßt zwischen den 50- und 60jährigen, die vor uns die Stühle besetzt halten und den 30jährigen, die von hinten drängen“, „Wir sind die erste Generation, die das Ende der Welt vor Augen hat“, „aber auch die erste bewußte Frauengeneration“.

Wären nicht die Frauen gewesen, vieles hätte reichlich selbstmitleidig und melancholisch geklungen, was sich am letzten Wochenende rund 130 TagungsteilnehmerInnen in der Evangelischen Akademie Loccum gegenseitig vorhielten. Es ging um das, was man gemeinhin Midlife-Crisis nennt. Doch da diejenigen, über deren Lebenshalbzeit Bilanz gezogen werden sollte, ganz besondere Leute waren, hatte man den anspruchsvollen Titel Die Philosophie der 40Jährigen gewählt - ohne Fragezeichen, ohne Anführungsstriche. Denn die heute 40jährigen, das ist die Generation der „68er“, die einst - und zwar sofort - alles wollten und die wie kaum eine andere Generation positive Prägungen hinterlassen hat.

Wo stehen sie heute? Haben sie als Generation etwas gemeinsam? Was ist übriggeblieben vom revolutionären Elan, was von den Enttäuschungen? Wollen sie heute noch gesellschaftliche Verantwortung übernehmen oder drücken sie sich vor der altersmäßigen Rolle, als „Leistungsträger der Gesellschaft“ die Alten von ihren Machtposten zu verjagen?

Diese Fragestelllungen hatten zumindest neugierig gemacht, und weitaus mehr TeilnehmerInnen als sonst waren in die Akademie Loccum gekommen. Fast ein Drittel mußte wegen zu großen Andrangs ausgeladen werden. Anders als bei den bisherigen „SDS-Veteranentreffen“ trafen sich an diesem Wochenende nicht die „Größen“ der Studentenbewegung, sondern eher die Namenlosen, die wissen wollten, welche Perspektiven die anderen in ihrer Generation in der Politik und in ihrem Alltag als RechtsanwältInnen, LehrerInnen, PastorInnen, arbeitslose DiplompädagogInnen oder Eltern sehen.

Doch gerade mit den Perspektiven, mit der Zukunft, taten sich die TeilnehmerInnen schwer, und bei einigen klang es, als hätten sie schon mit der Zukunft abgeschlosssen. Leichter fiel der Rückblick auf die eigene Geschichte und die früheren Utopien. Lebensgeschichten dieser ersten Nachkiegsgeneration der Bundesrepublik wurden nachgezeichnet, doch auffällig häufig blieben die Berichte in den siebziger Jahren stecken. Meist schwang bei den Männern ein melancholischer Unterton mit bei der Erinnerung an das in einem Atemzug zu sprechende „Achtundsechzigneunundsechzig“. Und nicht zu Unrecht platzte einem Tagungsteilnehmer der Kragen; diese ewige Rückschau erinnere ihn an Stalingrad-Erzählungen seines Vaters. Über die Gegenwart oder gar die Zukunft gab es offenbar nicht so viel zu sagen, was man/frau öffentlich erwähnenswert gefunden hätte.

Interessant überhaupt, worüber auf dieser Tagung nicht geredet wurde. Das Verhältnis zur heutigen Jugend etwa, das Altwerden, die häufig längst in Ehen festgelegten Liebesbeziehungen, der gesicherte Konsum oder die Langeweile, die Routine im Beruf, waren genausowenig Thema wie das Faktum, daß die Glanzzeit der Studenbewegung den 40jährigen inzwischen zeitlich genauso nah ist wie die Rente im Jahr 2010. Eher klang der stille Selbstvorwurf durch, noch gar nicht richtig erwachsen zu sein, wenn etwa der Journalist Matthias Greffrath konstatierte: „Wir sind ständig auf dem Sprung und weigern uns, fertig zu sein. Die Vaterfiguren sterben weg, und plötzlich merken wir, wir müßten das übernehmen. Wir sind die Väter!“

Doch eigentlich, so wurde auf der Tagung deutlich, müßten diese Väter wohl eher Mütter sein. Die weiblichen Vierziger nämlich waren es, die noch am meisten Zuversicht und Kraft ausstrahlten. Während viele Männer einen Zug von Resignation um die Mundwinkel trugen, sprachen die Frauen von ihrem „zweiten Erwachen“ und dem „Aufbruch, der gerade erst angefangen hat“. Daß im Gegensatz zu dieser Stimmung fast alle Diskussionspodien der Tagung von Männern dominiert waren, sorgte in Loccum für einen ständigen Konfliktstoff, und einige Frauen bereuten schon, daß sie nicht - wie vor 20 Jahren - Tomaten parat hatten für die männlichen Groß- und Vielredner.

Die Frauenbewegung und der andere Umgang mit Kindern (den die meisten der anwesenden 40jährigen inzwischen haben), waren denn auch die unbestrittensten nachhaltigen Veränderungen, die für sich verbucht wurden. Was andere politische Veränderungen anbetraf, waren die ehemaligen 68er eher skeptisch. Daß viele alte Orientierungen nicht mehr stimmen, man vielleicht sogar Glück gehabt habe, daß die Utopien von damals nicht Wirklichkeit geworden sind, daß die früheren Weltbilder durcheinandergeraten sind und man eher auf der Suche ist, war der durchgängige Tenor in der am meisten besuchten Arbeitsgruppe, wo es um das „Politikverständnis“ der 40jährigen gehen sollte. In einem nicht aufzulösenden Mißverhältnis standen dabei die Bilder von dem bevorstehenden ökologischen „Weltuntergang, der uns keine Zeit läßt zum Abwarten“ und dem eigenen Alltag. Auf der einen Seite die drohende Zerstörung der Welt, auf der anderen Seite das Recht auf Privatheit und die Politik der kleinen Schritte. Von dem „Größenwahn von damals“, den es abzulegen gelte, war viel die Rede, und das Wort „Bescheidenheit“ wurde ein häufig genannter Begriff in der politischen Debatte. Und manchmal hatte man den Eindruck, daß diese mehrfach beschworene Tugend auch etwas mit Bequemlichkeit zu tun hat.

Zumindest was die eigene geschichtliche Bedeutung angeht, zeigten sich die 40jährigen 68er ungebrochen selbstbewußt. So konnte z.B. der „Noch-nicht-40er“ Jürg Altwegg in seinem Eingangsreferat unwidersprochen prophezeien, die jetzt 40jährigen seien vielleicht „die letzte Generation, die auszog, die Welt zu verändern“. Und wo man angesichts der eigenen Außergewöhnlichkeit den nachkommenden Generationen nur noch so wenig Kraft und Mut für gesellschaftliche Veränderungen und Auflehnung zutraut, da konnte man am Ende der Tagung wohl getrost eine Wette eingehen: Genauso wie die 40jährigen 68er vor zehn Jahren unter dem Thema „Trau keinem über 30“ diskutierten, werden sie uns in zehn Jahren mit Symposien unter dem Motto: „50 Jahre und kein bißchen weise?“ wieder beschäftigen.