Die SPD als moderne Unternehmerpartei

Christian Schmidt

Ich glaube, daß die SPD in Münster ihr „zweites Godesberg“ vollzogen hat. Mit dem Godesberger Grundsatzprogramm von 1959 wurden seinerzeit die Reste sozialistischer Ziele aus dem Programm gekippt, um einen „sozialen Kapitalismus“ zu propagieren. Jetzt wurden in Münster die letzten sozialen „Hemmnisse“ beseitigt, um die SPD als „die modernere Unternehmerpartei“ zu profilieren. Die schon vor Jahren von Glotz erhobene Forderung, die SPD müsse „klipp und klar sagen, daß sie optimale Kapitalverwertungsbedingungen garantieren“ werde, ist jetzt offizielles Programm geworden. Gegenüber den bisherigen Beschlüssen der SPD sind folgende Neuerungen bemerkenswert:

Der Versuch der SPD, sich als die bessere Sachwalterin des produktiven Kapitals darzustellen, konkretisiert sich in folgenden Punkten: Der bis 1992 zu realisierende „Europäische Binnenmarkt“ wird bewertet als „Chance zur Bekämpfung der Massenarbeitslosigkeit“. Um diese „Chance“ bundesdeutscherseits nicht zu verpassen, muß, so Lafontaine in seiner Grundsatzrede, „eine Reform der Unternehmensbesteuerung ... so konzipiert sein, daß die Unternehmen im europäischen Wettbewerb bestehen können“. Im Klartext: Damit die westdeutschen Unternehmen 1992 eine erneute Exportoffensive starten können, müssen präventiv die Unternehmenssteuern gesenkt werden. Es wird eine Neuauflage der „Konzertierten Aktion“ von Staat, Unternehmern und Gewerkschaften propagiert: „Die Bundesregierung muß alle staatlichen Ebenen, die Deutsche Bundesbank, die Arbeitgeber, die Freiberufler, die Arbeitnehmer und ihre Gewerkschaften in die Verantwortung für die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit einbeziehen...“ Die in den sechziger Jahren von Ludwig Erhard propagierte „Formierte Gesellschaft“ wird damit erneuert, wobei heute der „Notstand Massenarbeitslosigkeit“ als ideologische Vehikel mißbraucht wird. Den abhängig Beschäftigten wird abverlangt, sich noch umfassender als bisher den Wachstumsnotwendigkeiten des nationalen Kapitals unterzuordnen.

Die Flexibilisierung darf nicht länger Tabu sein; Teilzeitarbeit, Nachtschichten sowie Samstags- und Sonntagsarbeit werden entweder ausdrücklich befürwortet oder unter der Hand propagiert. Die Rund-um-die-Uhr-Produktion wird befürwortet mit der Begründung: „Je kürzer die Arbeitszeit der Menschen, umso ökonomischer müssen die Maschinen genutzt werden.“ Und für die Ausweitung der Wochenendarbeit, die er mit diesem Ziel ebenfalls propagiert, müssen angebliche Wünsche der Betroffenen als Begründung herhalten: „Es gibt eine ganze Reihe von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern, die eine besser bezahlte Samstags- und Sonntagsarbeit einer weniger gut bezahlten Arbeit an anderen Wochentagen vorziehen.“ Wer die Debatte um Flexibilisierung in den letzten Jahren mitverfolgt hat, weiß, daß die SPD mit diesen Ausführungen mit fliegenden Fahnen ins Unternehmerlager übergewechselt ist.

Die praktischen Konsequenzen dieses Kurswechsels hat Steinkühler auf dem Parteitag benannt: Die Ausdehnung der Betriebsnutzungszeiten bringt „eine kostenlose Produktivitätssteigerung von 40 Prozent“, mit der Folge, „daß dies zur Konzentration auf die Stammwerke führt“ und dies wiederum „strukturpolitisch katastrophale Folgen“ hat. Mit Teilzeitarbeit andererseits wird ein zweiter prekärer Arbeitsmarkt für Frauen geschaffen. Steinkühler: „Wenn dies ein Modell ist, dann dürfen wir auch auf Maggi Thatcher nicht mehr schimpfen... Das hat mit Gleichstellung der Frau überhaupt nichts zu tun, was da auf diesen Teilzeitarbeitsplätzen jeden Tag vorgeführt wird.“

Dieser Kritik ist hinzuzufügen: Die Medien haben den SPD -Quotierungsbeschluß als mutigen Schritt nach vorn gefeiert

-obwohl die volle Parität erst in vierzig Jahren verwirklicht werden soll. Wichtiger aber noch ist, daß sich jedes positives Wort über die SPD-Quotierung allein deshalb verbietet, weil die Beschlüsse zu Flexibilisierung und Teilzeitarbeit ungleich größeren Schaden für die soziale Emanzipation von Frauen anrichten werden als je mit einem noch so fortschrittlichen Parteiquotierungsbeschluß an Nutzen erreicht werden könnte.

Im Unterschied zum Wort „Armut“ kommt der Begriff „Ökologie“ im SPD-Beschluß nahezu inflationär vor. Lafontaine ging sogar so weit, in verbaler Anleihe an die Programmatik der Grünen, den „ökologischen Umbau der Industriegesellschaft“ einzufordern; der SPD-Beschluß spricht immerhin von „ökologischer Erneuerung“. Was hinter dem Wortgeklingel steht, ist allerdings folgendes: Mit einer neuen Steuer auf den Energieverbrauch, aus Schadstoffabgaben und erhöhten Mineralölsteuern, sollen „technologische Innovationen auf dem Gebiet des Umweltschutzes gefördert werden“. Hinzukommen soll eine „ökologische Differenzierung von Verbrauchssteuern“. Bei ersterem handelt es sich also lediglich um eine verstärkte, selektive Investitionsförderung. Die Strategie, Ökologie und Gewinne in Einklang zu bringen, hat zwar auch bei uns einige Anhänger; die Erfahrungen mit nahezu allen Umweltskandalen der letzten Zeit zeigt aber gerade, daß Wirtschaftswachstum und Ökologie absolut unvereinbar sind. Deshalb sind Produktionsge- und verbote unabdingbar. Was sich hinter dem Begriff „ökologisch differenzierte Verbrauchssteuern“ konkret verbirgt, steht dahin.

Ingesamt steht also hinter den wohltönenden Bekenntnissen zur „ökologischen Erneuerung“ nichts anderes als die Suche nach neuen Wachstumsfeldern für eine modernisierte BRD -Ökonomie. Münster war der Parteitag der Lafontaines, Engholms, Schröders usw.; jener SPD-Generation, die unten links als „Hoffnungsträger“ neuer sozialer Bewegungen gestartet waren und jetzt oben rechts als Hoffnungsträger der produktiven Wachstumsbranchen angekommen sind. Sie haben das Gesicht der SPD verändert, aber nicht zum Besseren.

Es steht dahin, wie sich die an traditioneller Sozialpartnerschaft orientierten Sozialpolitiker und SPD -Gewerkschafter mit dem neuen Kurs arrangieren werden. Sicher aber ist, daß die abhängig Beschäftigten und Gewerkschaften insgesamt durch die Wende der SPD zur modernen Unternehmerpartei es noch schwerer haben werden, sich gegen Rationalisierung und Flexibilisierung zu wehren. Und ebenso sicher scheint, daß dies auch zu Lockerungen der politischen Bindungen an die SPD führen wird. Gleichzeitig spricht vieles dafür, daß eine Partei wie die Grünen jedenfalls derzeit kaum in der Lage sein wird, positiv auf eine politische Neuorientierung in diesem Bereich hinzuwirken. Denn wir können nicht übersehen: Das, was die SPD als neuen Kurs ausgibt, ist, gerade in den von uns repräsentierten sozialen Schichten, relativ populär.

Was wir tun können und müssen, ist - unabhängig von Wahlprozenten -, verstärkt Interessenspolitik für die Ausgegrenzten, für Erwerbslose und Sozialhilfe-Opfer zu machen.

Mit Blick auf 1990 deutet sich eine wahlpolitische Konstellation a la USA an, bei der es, vergleichbar mit den dortigen Demokraten und Republikanern, nur noch um die Frage geht, wer das bessere Kapitalmanagement zu bieten hat: Späth oder Lafontaine? Wenn dann richtig ist, bleibt die Frage, wie weit wir Grüne die Möglichkeit und den politischen Willen haben, in das dann entstehende „linke Vakuum“ hineinzuwirken und uns als grundlegende politische Alternative zu profilieren.