Europa-Parlament scheut Frauenpolitik

Heikle Themen in der Plenarsitzung abgewürgt / Ansonsten wurde ein tristes Bild der Situation von Frauen in Europa gezeichnet / Richtlinien zur Gleichbehandlung von Männern und Frauen verabschiedet  ■  Aus Straßburg Gitti Hentschel

„1975 haben wir Richtlinien über gleiche Entlohnung beschlossen. Mehr als zehn Jahre später sind sie immer noch nicht realisiert.“ Dies ist das Fazit der französischen Sozialistin Carole Tongue aus den Berichten des Frauenausschusses, die am Donnerstag nachmittag im Europaparlament (EP) in Straßburg erörtert wurden. Außerdem verabschiedete das EP mit Blick auf den angestrebten Binnenmarkt 1992 Richtlinien zur Gleichbehandlung von Männern und Frauen bei der sozialen Absicherung, mit denen eine EG-weite Vereinheitlichung gewährleistet werden soll. Der brisanteste Bericht über „Frauen und Gesundheit“ von der Regenbogenfraktion war überraschend am Montag von der Tagesordnung gestrichen worden. Der Bericht forderte nicht nur eine verbesserte Gesundheitsversorgung für Frauen und ihre Förderung insbesondere als Gynäkologinnen, sondern thematisierte auch die sexuelle Ausbeutung von Frauen durch Ärzte. Darüber hinaus sah er verstärkte Kontrollen für die Pharmaindustrie vor, unter anderem das Verbot, neue Medikamente außerhalb der eigenen Landesgrenzen zu erproben. Die verbliebenen Berichte über Frauen in Entscheidungsgremien und die Anwendung der EG-Richtlinien zeichneten EG-weit ein tristes Bild: Trotz Aktionsprogrammen zur Förderung von Chancengleichheit verdienen Frauen um 70 bis 75 Prozent weniger als Männer; die Arbeitslosigkeit nimmt bei den Frauen ständig zu. Es gibt keine Gesetze, die Frauen vor sexueller Belästigung am Arbeitsplatz schützen. Und in leitenden Positionen sind nicht einmal 15 Prozent Frauen vertreten. Dagegen erschienen die Änderungsvorstellungen des Frauenausschusses dürftig: Forderungen und Empfehlungen zur stärkeren Berücksichtigung von Frauen, ein neues Aktionsprogramm. Harte 50 zu 50 Quotenforderungen, die die Regenbogenfraktion aufstellte, scheiterten am Einspruch, insbesondere der Konservativen.

Halbherzig auch die beschlossenen Richtlinien, nach denen die soziale Absicherung von Männern und Frauen gleich und EG -einheitlich geregelt werden soll. Zwar gilt als Ziel die „Individualisierung“ aller Ansprüche. Doch die konkreten Richtlinien sehen erst einmal nur eine Gleichstellung von Männern und Frauen - etwa beim Rentenalter - vor; so, als gebe es keinen unterschiedlichen sozialen Hintergrund bei Männern und Frauen.