Wenn die Amtsmühlen einmal rasch mahlen

Bundesgrenzschutz und Jugendbehörde lassen seit diesem Sommer alleinreisende Kinder und Jugendliche aus dem Iran auf dem Frankfurter Flughafen nicht zu den wartenden Verwandten, sondern stellen sie sofort unter Amtsvormundschaft / Die angebliche „Fürsorge“ hat etliche Vorteile für die Behörden  ■  Aus Frankfurt Heide Platen

Mittwoch, den 27.Juli 1988. Auf dem Rhein-Main-Flughafen landet um 11.10 Uhr eine Maschine der Iran Airways. Sie kommt aus Teheran. An Bord sind iranische Kinder, vor allem Jungen im Alter zwischen 12 und 15 Jahren. Sie bestiegen das Flugzeug, um in der Bundesrepublik bei Verwandten unterzukommen. Ihre Eltern zu Hause wollen sie in Sicherheit wissen. Sie haben dafür die verschiedensten Gründe. Kinder von in Ungnade gefallenen Mullahs sind ebenso dabei wie Kinder von ehemaligen Anhängern des Schahs Sie alle fürchten den Krieg und fast noch mehr, daß ihre Familien nach Ende des Krieges zwischen Irak und Iran den dann wieder wie schon vorher durch das eigene Land ziehenden Revolutionswächtern des Ayatollah Khomeini zum Opfer fallen. Sie fürchten auch, daß sie in den zu erwartenden Kämpfen um die Nachfolge Khomeinis umgebracht werden könnten. Außer den iranischen Kindern sind auch Kinder aus Sri Lanka an Bord.

Vormundschaft auf

kurzem Amtsweg

Vor den Grenzkontrollen am Flughafen stehen die Verwandten der Kinder: Onkel, Tanten, Brüder, die hier leben. Sie wollen die von den Eltern angekündigten Kinder abholen. Sie bekommen sie an diesem Tag jedoch nicht zu sehen. Die Verwandten irren in den kommenden zweieinhalb Tagen in Hessen hin und her, werden von einer Behörde zur anderen geschickt und fahren teils ratlos und verzweifelt nach Hause, teils folgen sie den verwirrenden Hinweisen und hasten von Kinderheim zu Kinderheim, unter anderem in Schotten und Kronberg im Taunus. Endlich erreichen sie die Kinder am Freitag nachmittag.

Die haben inzwischen ebenfalls einen Irrweg hinter sich. Sie sind nach der Landung vom Bundesgrenzschutz direkt an das Frankfurter Jugendamt überstellt worden, das sie in Busse lädt und durch das Land fährt. Eine Jugendherberge lehnt die Aufnahme ab, deshalb übernachten sie den ersten Abend auf dem 19.Polizeirevier am Frankfurter Flughafen. Am nächsten Tag werden sie wieder in den Bus gestopft und werden studenlang durch den Vogelsberg gefahren, bis sie in einem schnell dafür hergerichteten Haus untergebracht werden können.

Während der Irrfahrt der Kinder mahlen die Mühlen der Behörden ausnahmsweise einmal nicht langsam, sondern relativ schnell. Mit Überstellung durch den Bundesgrenzschutz übernimmt das Frankfurter Jugendamt die Kinder als „hilflos und schutzbedürftig“. Sie beantragt, ohne die auf dem Flughafen wartenden Verwandten zu berücksichtigen, eine Amtsvormundschaft. Diese wird blitzschnell, in später folgenden Fällen noch am gleichen Tag, von den zuständigen Richtern erteilt. Nun ist das Jugendamt gesetzlich bestellter Vormund. Der beantragt umgehend Asyl für die Kinder.

Zweifelhafte Fürsorge

Die scheinbare Fürsorge hat menschliche und juristische Haken. Nach dem Gesetz haben ausländische Kinder in der Bundesrepublik ein uneingeschränktes Aufenthaltsrecht und genießen Freizügigkeit. Dies ist nicht mehr so, wenn ein Vormund vorhanden ist: Dieser bestimmt den Aufenthaltsort von Kindern. Außerdem sind die vom Jugendamt gestellten Asylanträge ausgesprochen überflüssig, denn die Kinder müßten sie von sich aus gar nicht stellen, sondern könnten ohne sie hier bleiben. Stellen sie aber einen Asylantrag, so muß darüber entschieden werden - unabhängig davon, ob Eltern oder Angehörige der Kinder in der Bundesrepublik bereits Asyl gewährt bekommen haben. Meist wird er abgelehnt, die Kinder allerdings werden „aus humanitären Gründen“ geduldet, können also sofort abgeschoben werden, wenn diese Gründe wegfallen.

Das Frankfurter Jugendamt schlägt mit dem Asylantrag zwei Fliegen mit einer Klappe. Zum einen zahlen für Unterbringung und Verpflegung von Asylbewerbern die Länder und Kreise und nicht die Kommunen. Zum zweiten sind Kinder, die registriert, unter Vormundschaft gestellt und mit einem Asylantrag versehen sind, leichter zu kontrollieren. Sie verlieren ihre Freizügigkeit und können jederzeit abgeschoben werden. Der Amtsvormund gilt im Falle einer Abschiebung oder der Ablehnung des Asylantrags als zustellungsfähige Adresse. Im andern Falle müßten laut Gesetz die Eltern im Iran benachrichtigt werden.

Asylanträge ohne Not

Anneliese Forsch, Leiterin der Abteilung Erziehungshilfe beim Frankfurter Jugendamt, begründet die Maßnahmen, die von SozialarbeiterInnen als „illegal“ bezeichnet werden, damit, daß den ohne Begleitung ankommenden Kindern „Sicherheit und Schutz“ gewährt werden müsse. Die Verwandten würden den Asylantrag nicht stellen, auch hätten sie oft keinen Platz für die Kinder. Der Asylantrag sei auch für unter Sechzehnjährige wichtig, weil die meisten hier bleiben wollten, um hier zur Schule zu gehen oder ihre Ausbildung zu machen: „Die wollen nicht zurück. Die Buben schon gar nicht.“ Angaben der Kinder bleiben dabei unberücksichtigt. Und die reichen vom Besuch der Tante für vier Wochen bis zum Besuch des Onkels für drei Monate und müßten eigentlich akzeptiert werden. Außerdem ist bekannt, daß das Ersuchen um Asyl den Antragstellern bei Rückkehr in ihr Heimatland schaden kann, sie müssen also nicht ohne Not gestellt werden. Die Kinder können das Handeln der hiesigen Behörden jedoch weder beeinflussen noch stoppen.

Der Asylrechtsexperte, Rechtsanwalt Hans Heinz Heldmann, hält das Vorgehen des Jugendamtes, „wenn es gegen den Willen der Eltern und der Kinder geschieht“, für unrechtmäßig. Auch der kirchliche Sozialdienst am Frankfurter Flughafen weiß um die Problematik der seit diesem Sommer praktizierten Sammel -Aktionen. Er muß Verwandte vertrösten und soll sich, so der stellvertretende Leiter Bernhard Zepf, am besten nicht einmischen und sich auf die „Wolldecken-Karitas“ beschränken. Er sei zur Zeit „eine einzige Vertröstungsanstalt“. Zepf stellt fest, daß die Zahl der Kinder, entgegen offiziellen Behauptungen, in der letzten Zeit nicht nennenswert gestiegen sei und nach dem Ende der Schulferien in Iran auch schon wieder sinke. Ein vermeintliches Problem entstehe dadurch, daß sie jetzt registriert und verwaltet würden. Die Initiative dazu sei möglicherweise vom Bundesgrenzschutz ausgegangen, der in Zusammenarbeit mit dem Jugendamt dem Wunsch des Bundesinnenministeriums entspreche, Kinder nur noch direkt an diejenigen Verwandten zu übergeben, die eine Vollmacht der Eltern vorweisen können. Kritisch steht der Sozialdienst auch Plänen gegenüber, auf dem Rhein-Main-Flughafen ein Sammellager für Asylsuchende einzurichten.

Verschiebebahnhof

Bernhard Zepf weiß allerdings auch zu berichten, daß iranische Kinder oft genug Opfer von Schleppern und Adressenhändlern werden. Die Eltern zahlen schon in der Heimat an Vermittler. Die Kinder übergeben dann bei ihrer Ankunft noch einmal zwischen fünfhundert und tausend Mark an die Abholer. Solche vermeintlichen „Onkel“ liefern die Kinder nach Empfang des Geldes, ohne sich weiter um sie zu kümmern, bei irgendeinem Jugendamt ab. Diese Praxis allerdings rechtfertigt nicht, so Rechtsexperten, die komplette Erfassung aller ankommenden Kinder. Es müsse hier, wie auch bisher, von Fall zu Fall entschieden werden.

Inzwischen hat ein Offenbacher Rechtsanwalt Strafanzeige gegen den Bundesgrenzschutz und das Frankfurter Jugendamt erstattet. Er wirft den Behörden Freiheitsberaubung und Nötigung vor. Er wurde von der Mitarbeiterin eines Frankfurter Jugendhauses beauftragt. Der Heimleiter des Kronberger Kinderheims, das durch die Abfang-Praxis der beiden Ämter zum Verschiebebahnhof ohne pädagogisches Konzept geworden ist, wollte dazu besser nichts sagen. Inzwischen erklärte sich auch ein Frankfurter Rechtsanwalt bereit, Anzeige wegen eines Falles zu erstatten, der sich bereits am 11.Juli dieses Jahres ereignet hat. Damals wurden 42 Jugendliche aus dem Iran ihren Verwandten einen Tag lang vorenthalten. Angehörige konnten sich bisher nicht zur Anzeige entschließen. Oft haben sie selbst einen Asylantrag gestellt, der noch nicht entschieden ist. Sie müssen dafür aber ihrerseits mit einer Anzeige des Bundesgrenzschutzes rechnen, wenn sie, um die Kinder abzuholen, den Bereich des für sie zuständigen Asylantenlagers verlassen haben.