Schrotkugeln auf IWF-Unterhändler

Anschlag auf das Auto des Bonner Finanz-Staatssekretärs Hans Tietmeyer / Stoltenbergs „rechte Hand“ blieb unverletzt / Bundesanwaltschaft ermittelt wegen Unterstützung der RAF / Sprecher des Finanzministeriums: „Das Leben ist gefährlich“  ■  Von V.Gaserow / Ch.Wiedemann

Berlin (taz) - Auf den Staatssekretär im Bundesfinanzministerium, den Chefverhandler der Bundesregierung in Weltwährungsfragen, Hans Tietmeyer, sind gestern früh mehrere Schüsse aus einer Schrotflinte abgegeben worden. Die Kugeln trafen das fahrende Auto des Staatssekretärs ungefähr 50 Meter von dessen Haus im Bonner Diplomaten-Viertel Heiderhof entfernt. Tietmeyer und sein Fahrer kamen mit dem Schrecken davon. Die Schrotkugeln hinterließen an dem Fahrzeug des leitenden Bonner Finanzbeamten Einschußstellen, waren jedoch nach Angaben des BKA schon allein von ihrer Stärke her nicht geeignet, das Blech der Limousine zu durchdringen. Eine Schrotladung soll das Fahrzeug von vorne getroffen und einen Reifen beschädigt haben. Tietmeyer konnte seine Fahrt fortsetzen und benachrichtigte erst in Bad Godesberg die Polizei.

Während gestern früh in Bonn die Spekulationen noch zwischen einem politischen Anschlag, einem Jagdunfall oder einen Angriff mit kriminellen Hintergrund schwankten, ging die Bundesanwaltschaft am Nachmittag von einem „zielgerichteten Anschlag“ im Zusammenhang mit der bevorstehenden Tagung von IWF und Weltbank aus, an deren Vorbereitungen Tietmeyer maßgeblich beteiligt ist (s.S.2). Die Bundesanwaltschaft ermittelt nun gegen Unbekannt wegen des Verdachts der Unterstützung einer terroristischen Vereinigung. Der Anschlag nämlich, so die Argumentation der Bundesanwaltschaft, diene der Unterstützung der RAF, denn deren Ziel sei es, den IWF/Weltbank-Kongreß zu verhindern. Eine Eingrenzung der oder des Schützen auf eine bestimmte politische Gruppierung sei nicht möglich. Schrotmunition sei für die RAF jedoch nicht typisch.

Augenzeugen wollen zwei Männer mit Pudelmützen in dem Waldstück gesehen haben, aus dem die Schüsse abgegeben worden waren. Im nachhinein erinnerten sich nach Recherchen von 'dpa‘ etliche Anwohner an „verdächtige Personen“ in der letzten Zeit. Viele Anwohner wurden jedoch auf den Anschlag erst aufmerksam, als die Polizei das Gelände hermetisch abriegelte.

Tietmeyer galt bisher schon in Bonner Sicherheitskreisen als gefährdete Person, fuhr aber gestern vormittag offenbar ohne Personenschutz zu seiner Arbeit.

In Baden-Württemberg löste die Polizei nach dem Anschlag eine landesweite Fahndungsaktion aus. In deren Folge postierten sich Polizisten vor „szene-nahen“ Häusern und kontrollierten die dort Ein- und Ausgehenden.

Ob die Schützen der Schrotschüsse den Sicherheitsbehörden die potentielle Angreifbarkeit von führenden IWF -Tagungsteilnehmern demonstrieren oder eine Warnung für die Zukunft hinterlassen wollten, ist bisher unklar. Fest steht jedoch, daß der Anschlag bei Verwendung von anderer Munition „ins Auge hätte gehen können“, so ein Sprecher des BKA. Von den Ermittlungsbehörden in Karlsruhe und von Bonner Politikern wurde er vielleicht deswegen relativ tief gehängt. Das BKA traf erst drei Stunden nach den Schüssen am Ort des Geschehens ein, und der Sprecher des Finanzministeriums kommentierte lapidar: „Das Leben ist gefährlich.“

Eine Stunde nach dem Anschlag forderte Bundesfinanzminister Stoltenberg die IWF-Kritiker auf, einen „entschiedenen Trennungsstrich“ gegenüber jenen zu ziehen, „die Aktionen der Gesetzlosigkeit und der Gewalt vorbereiten“. Jeder müsse sich nun genau überlegen, welche Veranstaltungen er besuche, mahnte Stoltenberg vor der Bonner Presse gleich dreimal. Auch die Veranstalter „legitimer“ Demonstrationen müßten ihre Pläne jetzt „sorgfältig und selbstkritisch überprüfen“, da der Mißbrauch von Demonstrationen durch „Terroristen und militante Gruppen“ zu befürchten sei. „Bestürzt“ zeigte sich auch Entwicklungsminister Hans Klein. Für den CDU -Innenpolitiker Johannes Gerster sind die Schrot-Schüsse am Bonner Heiderhof ein Beleg dafür, daß „die RAF und ihre Nachahmer weiterhin aktiv sind“ und die neuen Sicherheitsgesetze bald verabschiedet werden müssen. Fortsetzung Seite 2

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Unter der Parole „IWF-Kongreß angreifen“ werde bundesweit „zu Terroranschlägen“ aufgerufen, klagte Gerster. Er warf den Grünen vor, sich bisher nicht von Gewalt distanziert zu haben. Ludger Volmer, Sprecher der Grünen in der IWF -Kampagne, verurteilte die Schüsse, wies aber die „verantwortungslosen Äußerungen“ Stoltenbergs zurück. Der Minister trage zur Verschärfung des politischen Klimas in Berlin bei, indem er den ungeklärten Vorfall umstandslos mit der IWF-Kampagne in Zusammenhang bringe.

Der SPD-Politiker Wilfried Penner bezeichnete die Schüsse auf Tietmeyer als „kriminelle Tat“, die mit politischer Auseinandersetzung „nichts zu tun“ habe. Gleichzeitig verwies Penner aber auf das Schicksal seines Fraktionskollegen Ingomar Hauchler, der bei einer Hamburger IWF-Veranstaltung verletzt wurde, als er einen angegriffenen IWF-Exekutivdirektor hatte schützen wollen. Mit den Sicherheitsbedingungen bei der Jahrestagung wird sich heute der Innenausschuß des Bundestags befassen.