Lippen-Bekenntnisse

■ Gehörlose Menschen feierten in St. Ansgarii Erntedankfest-Gottesdienst

„Wir wollen...“ (der Pastor ballte die Rechte zur Faust, hielt sie geschlossen vor sich) “...dank-“ (der Pastor drückt mit seiner rechten seine linke Hand) „-bar“ (der Pastor legt die Hand auf Herz) „sein“ (der Pastor stellt Zeige-und Mittelfinger vor seiner Brust in den Raum).

Zum Thema 'Erntedankfest‘ folgten gestern über 40 gehörlose Menschen in St. Ansgarii hochkonzentriert und ohne den Blick abzuwenden der Predigt von Pastor Jochen Müller. Der hatte es nicht sich, sondern den anderen leichtmachen wollen und zum Gleichnis „Niemand lebt davon, daß er viele Güter hat“ in einfachen, klaren Hauptsätzen voller gegenständlicher Begriffe gepredigt: „Wir haben geschlafen. Wir wachen auf. Wir leben. Wir freuen uns darüber.“ Die Botschaft des Gottesdienstes war einfach und wurde voller Engagement übermittelt: „Wir danken für alle Gaben. Aber besonders für Jesus Christus.“

Ein Gottesdienst ohne Orgel, ohne gemeinsame Lieder. Aber es gibt eine Liturgie: Gemeinsam sprachen die Gläubigen das „Ehre sei Gott...“, das Glaubensbekenntnis und das „Vater unser“. Einige von ihnen haben es als Noch-Hörende in der Kindheit gelernt, die anderen mußten es sich mühevoll, Hand auf Kehle, aneignen.

Anschließend gemeinsame Teestunde im Gemeindesaal. Es war überhaupt nicht mäuschenstill. Es summte vor Lauten, vor Stimmen. Über 40 gehörlose Menschen unterhielten sich mit Gebärden, Mimik und Lippenbewegungen. Hände zählten mit flinken Bewegungen vor, umrissen blitzschnell Figuren in der Luft, klopften aufs Tischtuch, legten Finger an Nasenflügel und Stirnfalten. Kaum hatte sich die Fremde, die taz -Reporterin, dazugesetzt, bestellte eine Tischnachbarin mit entschiedenen Bewegungen einen Tee für den Gast, lud herzlich dazu ein. Arme, Hände und Finger bewegten sich lebhaft. Wer gerade nicht aufpaßte, wurde angestoßen, zum Hinsehen gebracht.

Mitten unter den Gehörlosen, beobachtend, gestikulierend, zuhörend, leise und langsam redend, der Pastor. Gerade erzählte ein alter Herr, daß er Auto fährt und Fahrrad (kreisende Bewegung beider Hände), daß er aber auch nicht trinke (die klassische Geste) und nicht rauche. Umgekehrt erklärte Pastor Müller, wer zu Besuch war: „Sie schreibt für die Zeitung“, formte er und faltete ein imaginäres Blatt mindestens im FAZ-Format auseinander.

Hauptsächlich Frauen, darunter viele Witwen, kommen jeden vierten Sonntag im Monat in den Gehörlosen-Gottesdienst nach St. Ansgarii. Pastor Müller, eigentlich für Huchting zuständig, organisiert ehrenamtlich auch den Konfirmandenunterricht für Gehörlose, den Jugendkreis. Die Gebärdensprache hat er seit der Vikarzeit 1958 bei St. Ansgarii gelernt: „Wie man Vokabeln lernt - vieles muß ich erfragen oder im Gebärdenbuch nachsehen.“ Pastor Müller: „Das ist so persönlich-intensiv, so überschaubar, so dankbar - eine richtige Lebensaufgabe!“ Die ersten Gäste verabschiedeten sich. Der Pastor zeigt von sich weg: „Nächstes Mal...“ und berührt seine Augen: „sehen wir uns wieder!“ Susanne Paa