Wir sind alle betroffen

■ 1. Festival Poltik im Freien Theater am Samstag: Die Gelsenkirchener Theaterleute mit ihrer „Gestapo Akte Karl S.“: Fragen wurden nicht gestellt, Fragen wurden beantwortet

Es fängt an, wie Stücke, die wieder einmal die Verbrechen des NS-Regimes aufarbeiten wollen, eben anfangen. Alles ist dunkel, nur einer spricht. Die nuschelig-sonore und massenrhetorisch geschulte Stimme gehört zu Adolf H. Dann Goebbels und Himmler und Heil Hitler und In-Ewigkeit -Amen. Dann das funzelnd-suchende Licht zweier Taschenlampen in den Zuschauerreihen des Packhaus-Theaters und zwei paar schwere Stiefel. Das sind SS-Männer. Wir spielen unfreiwillig mit. Das ist jedenfalls nicht Brecht.

Der Vorhang hebt sich, die Ledermänner poltern auf die Bühne, man sieht eine Amtsstube mit dem Adolf-Hitler -Jugendbild in Augeshöhe, die Einmeterachtzig-Ausführung eines Schreibtischtäters tackelt auf einer Reiseschreibmaschine der Marke Olympia, ein Mann ohne Uniform sitzt auf dem Holzstuhl und ist das Opfer, der Kunstmaler Karl Schwesig. Es kann losgehen.

Die Gelsenkirchener Theaterleute haben sich einigermaßen bemüht, dem Gelsenkirchener „Schlegelkeller“, der für seine raffinierten und brutalen Verhörungsmaschinerien berüchtigt war, eine authentische Atmosphäre zu verleihen. Thomas Hess in der Rolle des Sturmbandführers Dr. Hovick ist ein lispelnder und irgendwie völlig untalentierter Ich-muß-jetzt -einen-SS-Mann-spielen-Drittklass-Star. Seine Auftritte wirken so echt wie ein Holzbein. Wenn er Befehle schnauzt, leiert seine Stimme so gar nicht nazi-gerecht -einschüchternd, so daß Kurt Matenia in der Rolle des Karl Schwesig größte Mühe hat, wirklich Angst zu zeigen. Er soll Informationen über Oppositionelle ausspucken (das ist authentisch), und um das zu erreichen, haben sich die SS -Männer einige Gemeinheiten ausgedacht. Aber die wirken hier auch einigermaßen ausgedacht. Irgendwie nicht echt. Deshalb kann Schwesig auch schön schweigen. So recht nach der du -wirst-uns-schon-noch-kennenlernen-Art platzen die Befehle diletantisch durchs Packhaus. Wir sollen auch Angst haben. Haben wir aber nicht.

Die kleine Folter-und Leid-Geschichte, die in prächtigen Original-Uniformen und in weniger prächtiger Anstaltskleidung durchs Packhaus dräut, ist auch eigentlich nicht so wichtig. Man weiß, auf welcher Seite man stehen soll. Wir weinen mit den Weinenden und lachen mit den Lachenden. Das kennen wir schon.

Das war der erste Akt. Bevor es wieder dunkel wird, huscht eine Komme-gerade-von-einem-Ball-Schönheit mit einem Glas Schampus in der Rechten auf die Bühne, eine Gasmaske auf dem Kopf, mit der sie so aussieht wie Emily LLoyd in „Wish you were here“, zieht mit der Linken ein Blatt Papier aus dem Handtäschchen und liest Heinrich Mann. Das wird verraten. Schwesig, nun wieder auf den Beinen, liest auch Heinrich Mann. Die Grausamkeit wird theoretisch aufgearbeitet.

Der Vorhang fällt, ein Hit der 50er Jahre wird eingespielt. Der soll auf die restaurative Adenauer-Ära einstimmen. Dann noch einer. Und noch einer. Die Pause als schöpferischer Einfall.

Das war das Nazi-Regime, nun kommt die Adenauer-Ära. Die war auch nicht besser. Karl Schwesig sitzt seinen einstigen Folterknechten gegenüber (das ist fiktiv). Die Richterin ist parteiisch-korrupt. Eine von denen, die sich gern als tierlieb bezeichnen, weil sie monatlich fünf Mark fürs Tierheim spenden. Wenns um Menschen geht, werden sie ungeduldig. „Herr Schwesig“, erbost sie sich, „Sie haben wohl kein richtiges Verhältnis zum deutschen Rechtsstaat, nun wollen wir mal Herrn Dr. Hovick zu Wort kommen lassen, Herr Dr. Hovick, was sagen Sie denn zu den Anschuldigungen des Zeugen? “. Die Frage ist natürlich rhetorisch gemeint. Und natürlich kommen die einstigen SS-Männer ohne Strafe davon, da kann sich Karl Schwesig auf den Kopf stellen und die Welt nicht mehr verstehen. Die Welt ist eben ungerecht.

Die fünf Schauspieler der Gelsenkirchener Theatergruppe, die am Sonnabend ihr Stück „Gestapo-Akte Karl S.“ zum 33. Mal (meist in Schulen) aufführten, wollen, so sagen sie, keine Fragen beantworten, sondern Fragen gebären. Eine gute Absicht. Nur haben sie ein Stück inszeniert, das, sehr ungeduldig, alle Fragen schon beantwortet hat. Ein Real -Drama. So war es, so wird es wieder sein. Einsicht zu nehmen, lautete die Devise. Wo sind heute Parallelen zu finden? Frage an das Publikum: Neo-Faschismus. Richtig. Betroffenheit zu erzeugen, Anstoß zu geben, war die geheime Absicht. Die hatte Erfolg: „Wie konnte das angehen? “, grämt sich eine junge Frau, die, „Sie-merken-ja-meiner-Stimme-ja -immer-noch-an-wie-betroffen-ich-bin, sich angesprochen fühlt und sich nun auseinandersetzen will. Das freut die Schauspieler. Alle Fragen beantwortet. Wir gehen nach Haus. So einfach geht das.

Regina Keichel