Die Dethematisierungs-Kunst des IWF

Der neue „World Economic Outlook“ des IWF, zwischen den Zeilen beziehungsweise gegen den Strich gelesen  ■  Von Kurt Zausel

Der IWF ist eine Institution von Ökonomen. Und Ökonomen haben die professionelle Eigenschaft, die Entwicklung der Welt mit Zahlen zu beschreiben. Eine Höhepunkt des Zahlenfetischismus wird erreicht, wenn der Staff of the International Monetary Fund zweimal im Jahr seinen World Economic Outlook vorlegt.

Von den vielen Veröffentlichungen des Fonds zählt der Outlook deshalb zu den wichtigsten, weil die dort vorgestellten ökonomischen Daten die Basis der Politikformulierung bieten. Mit der Zusammenstellung von Zahlen wird die Welt zwar nicht verändert, aber sie wird interpretiert. Und selbstverständlich dienen Zahlen auch dazu, ideologische Legitimation für Politikstrategien zu produzieren.

Einen Beitrag zur Legitimation bieten allerdings auch die Leerstellen des Reports: Die Probleme, über die sich die IWF -Statistiker ausschweigen, können nur schwer zum politischen Gegenstand gemacht werden. Wer es bis dahin noch mit Marshall McLuhan hielt, demzufolge die Einheit der Welt durch die Ausbreitung der elektronischen Medien hergestellt wird, wird im World Economic Outlook eines Besseren belehrt: Geld und in Geld bewertete ökonomische Größen halten die Welt zusammen.

Allerdings ist dieser Zusammenhang seit dem offenen Ausbruch der Schuldenkrise im Jahr 1982 immer brüchiger geworden. Betrugen zwischen 1979 und 1982 die in die Länder der Dritten Welt fließenden Nettokreditströme der privaten Banken noch 41 Milliarden US-Dollar pro Jahr, so hat sich seit diesem Jahr die Relation umgedreht: Aus den Schuldnerländern fließt mehr Kapital in Gestalt von Zins und Tilgungsleistungen in das westliche private Bankensystem, als dieses zur gleichen Zeit neue Kredite vergibt.

Obwohl dieser Ressourcentransfer von der Peripherie in die Metropolen nun schon seit Jahren anhält, ist der Schuldenberg dennoch weiter angewachsen. Der Grund dieser ökonomischen Perversion liegt in der Kapitalisierung der Zinsen: Die Schuldnerländer trimmen zwar ihre Volkswirtschaften um jeden sozialen und ökologischen Preis auf die Erzielung von Exporteinnahmen. Dennoch reichen die Devisenerlöse nicht aus, um neben den lebenswichtigsten Importen auch noch den Schuldendienst in voller Höhe finanzieren zu können. Der nicht bediente Anteil des Schuldendienstes wird also auf die ausstehenden Kreditbeträge aufgeschlagen - und dadurch der absolute Schuldendienstbetrag noch erhöht. Dieses Spiel hat selbstverständlich seine Grenzen: Übersteigen nämlich die Forderungen das transferierbare Ressourcenpotential der Schuldner, werden die Kredite uneinbringbar.

Diese Grenzen zu verschieben hat sich der IWF zur Aufgabe gemacht. Durch die Injektion von fresh money und vor allem durch „Strukturanpassungsmaßnahmen“ wird seit Jahren versucht, die Rückzahlungsfähigkeit aufrechtzuerhalten und sogar noch zu steigern. Die wirtschaftspolitische Botschaft des IWF lautet: Mit Wachstum aus der Krise.

In dem während der Jahrestagung in Berlin vorgestellten neuesten Outlook werden die Erfolge dieser Politikmaxime ausführlichst beschrieben. Weltweit sind die Zuwachsraten des realen Sozialprodukts und ist der reale Welthandel stark angestiegen. Freilich werden diese Erfolgsmeldungen dadurch getrübt, daß die IWF-Ökonomen feststellen müssen, daß diese Wachstumsdynamik an den Schuldnerländern weitgehend vorbeigegangen ist.

Zwar sind auch dort die Wachstumsraten des Sozialprodukts und der Exporte gestiegen. Weil aber die Neuverschuldung in noch stärkerem Maße gewachsen ist, hat sich der daraus erwachsende Schuldendienst in absoluten Zahlen sogar noch erhöht. Soweit die Schuldnerökonomien Wachstumserfolge erzielen, fließen diese Effekte unmittelbar in den Schuldendienst ein. Ein hoher Vertreter der Ökonomieabteilung des IWF bezeichnete diesen Prozeß vor der Presse als ein „Puzzle“, das nicht geklärt werden könne.

Wer nun allerdings meint, die IWF-Ökonomen würden das Rätsel der ausbleibenden spill over-Effekte lösen wollen und darüberhinaus sogar Zweifel an ihrer Wachstumsstrategie äußern, befindet sich auf dem Holzweg. Schließlich, so die Hoffnung der Politstrategen, müssen sich irgendwann einmal die Effekte des Wachstums in den entwickelten kapitalistischen Ländern auch auf die überschuldete „Peripherie“ übertragen. Daß die Welt nicht so ist, wie sie sich die neoklassischen Ökonomen des IWF vorstellen, ist für diese mithin noch lange kein Grund, ihre theoretischen Modelle und die darauf basierenden wirtschaftspolitischen Maßnahmen zu ändern. Wer zu lesen weiß, findet allerdings in der IWF-Veröffentlichung auch genügend Argumente, die die Hoffnungen gegenüber dieser Politikmaxime in Luft auflösen.

So wird von den Ökonomen angeführt, daß die niedrigen und in der Tendenz weiter rückläufigen Preise für Erdöl den Schuldnerländern, die diesen Rohstoff verkaufen, weitere Einnahmeeinbußen gebracht haben; es wird auch festgestellt, daß gerade die Preise der Rohstoffe, die hauptsächlich von den Schuldnerländern angeboten werden, im Trend rückläufig sind; und es wird schließlich ausgeführt, daß die hohen und in der Tendenz steigenden internationalen Zinssätze alle positiven Wirkungen des schneller gewachsenen Welthandels überkompensiert haben.

Mit anderen Worten: Diese externen Faktoren, auf die die Schuldner keinen Einfluß nehen können, haben alle internen Bemühungen zur Strukturanpassung zunichte gemacht. Es ist wie beim Wettlauf zwischen Igel und Hase: Der Weltmarkt und seine negativen Wirkungen auf die abhängig integrierten Länder der Dritten Welt sind immer schon da. Was also würde näher liegen, als die Verbesserung dieser „Rahmenbedingungen“ in das Zentrum einer Politikstrategie zu stellen?

Selbstredend ist der IWF weit davon entfernt, solche Schlüsse aus seiner Veröffentlichung zu ziehen. Dazu wäre es ja notwendig, Strukturen zu verändern und insbesondere die großen Störenfriede der kapitalistischen Weltwirtschaft Japan und die Bundesrepublik mit ihren strukturellen Leistungsbilanzüberschüssen und die USA mit ihrem strukturellen Leistungsbilanzdefizit - wirtschaftspolitisch anzugehen.

Ein solcher Schritt ist für den IWF ganz offensichtlich undenkbar. Wenn schon Kritik und Druck, dann hält man sich doch lieber an die Schwachen. Auf einen World Economic Outlook, in dem breit und mit Nachdruck die eigentlichen Schurken im Schuldenspiel ins Visier genommen werden, darf noch lange gewartet werden. Bis dahin muß weiterhin zwischen den Zeilen gelesen werden.