Knast für Volkszählungs-Boykott

■ 60 Tage Knast für 21jährigen, der VoBo-Flugblätter verteilte / Gericht: „Gebrauchswert des Erhebungsbogens durch Abschneiden der Heftnummer erheblich vermindert“

Hunderte von BremerInnen haben es ungestraft privat oder öffentlich getan, und Ulrich Fleischmann aus Morsum im Landkreis Verden muß dafür heute 60 Tage lang in den Achimer Knast: weil er zum Boykott der Volkszählung aufgerufen und entsprechende Flugblätter verteilt hat.

Der 21jährige Abiturient hatte im Mai 1987 in der Nähe seines damaligen Wohnortes in Rheinland-Pfalz Flugblätter verteilt, in denen zum Boykott der Volkszählung und zum Heraustrennen der Heftnummern aufgefordert worden war. Wie zahllose BremerInnen hatte Fleischmann als „Informationen zur Volkszählung“ Flugblätter in Haushalte verteilt, auf denen zu lesen war: „Nichtausfüllen ist sicher die konsequenteste Möglichkeit, die Volkszählung zu verhindern.“ Schon die Gerichtsverhandlung gegen den Boykotteur im November 87 in Trier wurde in der dortigen Lokalpresse als „Provoka

tion des Amtsgerichts“ beschrieben: Ulrich Fleischmann war eine halbe Stunde zu spät, mit zehnköpfiger „Fan„-Begleitung - und dann noch gar ohne Schuhe und Strümpfe erschienen.

„Die Kennziffer stellt den statistischen Zusammenhang zwischen den Personen und ihren Angaben her“, schrieb das Gericht dann zutreffend in seiner Urteilsbegründung und fuhr fort: „Das Abschneiden der Kennziffer aus dem Erhebungsbogen stellt auch eine Beschädigung desselben dar.“ Messerscharfe Folgerung: „Der Gebrauchswert des Erhebungsbogens wird durch das Abschneiden der Kennziffer erheblich vermindert.“

Für seine „öffentliche Aufforderung zu Straftaten“ sollte der damals „Heranwachsende“ Ulrich Fleischmann eine Geldstrafe von 60 Tagessätzen a zehn Mark bezahlen - nach dem Erwachsenenstrafrecht. Denn „die Tat stellt keine typische Jugendverfehlung dar, da derartige Strafta

ten erfahrungsgemäß von Tätern jeglicher Altersgruppe begangen werden“, wertete das Gericht.

Die Staatsanwaltschaft in Trier forderte Fleischmann schließlich auf, entweder zu bezahlen oder die Ersatzfreiheitsstrafe in Achim anzutreten. „Ich denke nicht daran, die Volkszählung auch noch mit 600 Mark zu finanzieren“, erklärte der Verurteilte gegenüber der taz und entschied sich für den Knast. Der scharfe Anklage-Vertreter in Trier war übrigens derselbe Oberstaatsanwalt Horst Leisen, der im Dezember 87 von der Bearbeitung „politischer Strafsachen“ suspendiert werden mußte, weil er im Kollegenkeis mehrfach das faschistische Horst-Wessel-Lied abgesungen hatte. Gegen Leisen läuft ein Dienstordnungsverfahren.

Studienanwärter Ulrich Fleischmann sieht dem Knast „locker“ entgegen: „Ich will mich von den Drohungen des Staates möglichst wenig einschüchtern lassen.“ S.P