Stadtmitte

Juristen sind in ihrer Mehrzahl gefährliche charakterliche Zeitbomben. Von ihrer physischen Grundstruktur mit einem ängstlichen Naturell ausgestattet, suchen sie beruflich ihre Heimat in einem wohlgeordneten, mit scheinbar klaren Kategorien ausgestatteten Normensystem. Das können sie ihrem Denken überstülpen, und wenn sie sich im Einklang mit dem schon immer Dagewesenen befinden, dann steht ihnen auch das staatliche Gewaltmonopol in vielen amtlichen Funktionen zur Verfügung.

Unter Juristen gibt es auch manchen Aussteiger: Besonders gefährlich sind hier offenbar solche Berufswechsler, wie sie zur Zeit als Spitzenbeamte in der Innenverwaltung ihre Wirkung entfalten: Ein nicht mehr aktiver Rechtsprofessor als Senator, ein früherer Staatsanwalt als Staatssekretär und ein ehemaliger Oberrichter als Polizeipräsident. All diese Leute haben eine Institution hinter sich gelassen, in der ihre Machtentfaltung durch mehrere Kontrollinstanzen gebremst war: Der Wissenschaftler durch seine Konkurrenten, der Staatsanwalt durch das Gericht, der Richter durch die höhere Instanz. Die Presse hat neben manch anderer Funktion die Aufgabe, die Inhaber staatlicher Macht öffentlich zu kontrollieren, indem sie ihnen auf die Finger schaut und ihr Tun in Bild, Ton und Schrift bekannt macht. Das Volk soll schließlich wissen, was die Inhaber des staatlichen Gewaltmonopols mit all ihrer Staatsgewalt machen, die nach dem Grundgesetz von ihm ausgeht.

Unsere Aussteiger aus der Rechtspflege stellen also irritiert fest, daß sie weiterhin kontrolliert werden, viel unmittelbarer und unbequemer als durch den Rechtsweg mit seinen überschaubaren Instanzenzügen. Unsichere, aber ehrgeizige Charaktere sind dadurch gekennzeichnet, daß sie keine Fehler zugeben können. Ihre mangelnde (Sach-)Autorität zeigt sich darin, daß sie sich dem Apparat unterordnen, an dessen Spitze sie eigentlich stehen sollten. Kewenig, Müllenbrock und Schertz haben offenbar mehr Angst vor den Scharfmachern in der Polizei als Respekt vor dem geltenden Recht.

Wäre Kewenig ein kluger Politiker oder wenigstens intelligent beraten, so hätte er sich nach den Ausschreitungen gewisser Polizisten gegen Bildreporter in den vergangenen Tagen die Gelegenheit nicht entgehen lassen, sich als Gralshüter der Pressefreiheit darzustellen. Es wäre „konservativ“ im besseren Sinne gewesen, wenn er den Bildreportern gegenüber sein Bedauern ausgesprochen und gleichzeitig schärfste Untersuchungen unter hochrangiger Leitung angekündigt hätte. Aber nein, der Kleingeist kneift vor seinen Untergebenen und räumt erst dann pflaumenweich das Unvermeidliche ein, wenn die Beweise erdrückend werden.

Das schlimmste und politisch gefährlichste aber ist, daß dieser Senator und seine Berater, indem sie sich vor die polizeilichen Scharfmacher stellen, eine Eskalation fördern, die kein vernünftiger Mensch wollen kann. Wie sollen diejenigen Polizeibeamten, die das Unrechtmäßige ihrer Kollegen wahrnehmen und mißbilligen, jemals diesen Störern in Grün in den Arm fallen, wenn sie nicht der Unterstützung ihrer Vorgesetzten und vor allem der politischen Führung sicher sein können? Jeder weiß, daß in diesem dicht und autoritär geführten Apparat, in dem jeder auf seinen Kollegen angewiesen ist, sei er ihm sympathisch oder nicht, ein kritischer Schritt weit schwieriger ist, als tausend revolutionäre Töne aus einem Uni-Seminar. Solange aggressive Vereinfacher, demagogische Schlagstockstrategen im Stile des Polizei-Beamtenbündlers Franke die Gruppendynamik eines Einsatzes bestimmen, ohne daß der zuständige Senator dazwischenfährt, werden hieraus auch in den Gruppen auf der anderen Seite der Straße die Gewaltstrategen die Legitimation für ihre Handlungsweise beziehen und propagieren können.

Vielleicht sollten wir Kewenig auch dankbar sein: Hatten wir vor dem Kongreß befürchtet, alle Welt würde nur über Krawalle und nicht über die Inhalte der Demonstrationen sprechen, so hat Schertzens Polizei dazu beigetragen, daß nicht nur über die Dritte Welt, sondern auch über die Pressefreiheit in Berlin (West) weltweit berichtet wurde.

Klaus Eschen