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Nazi-Geschichte, Handel und Wandel

■ Interview mit Dr. Frank Boldt, Vorstandsmitglied der deutsch-tschechoslowakischen Gesellschaft, über das erste gemeinsame Historiker-Seminar zum Münchner Abkommen von 1938 / Über die Handelsperspektiven Bremen - Bratislava

In der vergangenen Woche haben sich erstmals tschechoslowakische und westdeutsche Wissenschaftler zu einem Seminar über eines der dunkelsten Kapitel der gegenseitigen Geschichte getroffen: das Münchner Abkommen von 1938, in dem Frankreich und England dem Nazi-Reich die Besetzung der sudetendeutschen Gebiete der Tschechoslowakei „erlaubten“. Ein halbes Jahr später marschierten die Nazi -Truppen weiter - nach Prag.

Einen der Organisatoren des Seminars, Dr. Frank Boldt, haben wir nach der Bedeutung des Seminars gefragt. (vgl. dazu taz vom 29./30.9.

taz: Wäre so ein Seminar vor zwanzig Jahren in der Bundesrepublik möglich gewesen?

Frank Boldt: Eindeutig, kurz und einfach: Nein. Dieses Seminar war ein absoluter Durchbruch, weil man zwar voneinander wußte und die wissenschaftlichen Arbeiten des Gegenübers las, aber man hat sich niemals gegenüber gesessen und freimütig gesprochen..

Warum nicht?

Boldt: Weil das tabuisiert war. Weil auf der deutschen Seite die meisten Historiker dem Collegium Carolinum angehörten oder zumindest affiliert sind, und das Collegium Carolinum ist die Nachfolgeorganisation der Deutschen Universität in Prag. Das war in den 50er Jahren der verlängerte wissenschaftliche Arm der Sudentendeutschen Landsmannschaft.

Gab es auf dem Seminar Rechtfertigungen des Münchner Abkommens im Sinne von „Selbstbestimmunsgrecht der Sudetendeutschen“?

Boldt: Diese Meinung gab es, sie gibt es nicht mehr.

Und die Vertreibung 1945?

Boldt: Da gibt es natürlich einen großen Dissens, und der ist auch aufgebrochen auf dem Seminar.

Wozu führt denn das, wenn man sagt, die Vertreibung der Sudetendeutschen 1945 war Unrecht?

Boldt: Die Frage ist, ob man darüber als Wissenschaftler spricht oder als Politiker. Die Partei, die seit 1945 in der Tschechoslowakei regiert, müßte dann ja Selbstkritik betreiben.

Hätte der neue Tschechoslowakische Staat eine erhebliche Minderheit von Leuten vertragen, die doch mehrheitlich Nazi -Anhänger waren?

Boldt: Die Frage „Was wäre wenn“ kann ich nicht als Historiker, sondern nur als einfacher Mensch beantworten: Die Bundesrepublik ist mit viel mehr Nazis fertig geworden. Der Teil, der kollaboriert hat, umfaßte hier vielleicht 80%. Aber die Menschen sind lernfähig, insofern waren die Sudetendeutschen von 1945 andere als die von 1938.

Natürlich war aber in der Tschechoslowakei ein gewaltiges Potential an Haß gegen die Nationalsozialisten da, weil die Repressionsmaßnahmen der Nazis furchtbar gewesen waren: ein unverhohlener Vernichtungskampf gegen die tschechische Intelligenz. Da wurden selbst tschechische Nationalsozialisten hingerichtet, einfach weil sie Angehörige der Intelligenz waren.

Wie hat die tschechische KP sich zum Hitler-Stalin-Pakt verhalten?

Boldt: Wie überall, bis auf verschwindende Ausnahmen. Die

kommunistischen Parteien sind ja immer sehr disziplinierte Organisationen. Es wurde sogar gesagt, daß die deutschen Soldaten, die im Frühjahr 1939 in Prag einmarschiert sind, keineswegs Unterdrücker seien, sondern deutsche Arbeiter in Uniform. Die tschechischen Emigranten durften bis 1941 nicht kämpfen.

Ist darüber auf dem Seminar geredet worden?

Boldt: Nein, das war nicht unser Thema. Dieses Seminar war wirklich ein Durchbruch, das hätte vor 20 Jahren nicht stattfinden können. Wenn so eine lange Pause vorliegt, dann ist es nicht klug, die kontroversesten Themen gleich beim ersten Gespräch anzusprechen.

Es sind wichtige Historiker nicht eingeladen gewesen, die seit Jahren für die Schublade schreiben, z.B. der Biograf des Ministerpräsidenten Benes.

Boldt: Das ist in der Diskussion angesprochen worden. Aber wenn man so eine Konferenz vernünftig organisieren will, kann man nur sagen: jeder bestimmt, wer von seiner Seite kommt.

Hinter dem wissenschaftlichen

Austausch steckt ja auch ein aktuelles politisches Interesse. Bremen wird im November eine Städtepartnerschaft mit Bratislava abschließen. Können die Slowaken sich Hoffnung auf mehr Handelsbeziehungen machen? Wird der westeuropäische Binnenmarkt die Außenhandelsgrenzen Richtung Osteuropa nicht verstärken?

Boldt: Ich sehe das anders. Das ist ja keine Partnerschaft mit der EG, sondern mit Bremen. Erstens gibt es seit langem handfeste Interessen an einem Warenaustausch. Die größten ost-mitteleuropäischen Partner der Bremer Häfen sind die Tschechoslowakei und Ungarn. Wenn es ein Binnenschiffahrts -Abkommen ratifiziert ist und die Mittelweser bis Minden ausgebaut ist, dann kann man von Bremen direkt mit dem Europa-Schiff in die Tschechoslowakei hineinfahren. Die Verbindung zu Wasser bestand bisher nur nach Hamburg, da können die Bremer was abzwacken.

Gibt es derzeit schon direkten Austausch?

Boldt: Ja. Im Anschluß an die Föderalisierung der Tschechoslowakei 1968, das ist ja vom Prager

Frühling übrig geblieben, hat die Slowakische Sozialistische Republik das Recht erhalten, auch eigenständig Außenhandel zu betreiben. Das läuft nicht alles über Prag.

Der Export von Nahrungsmitteln aus der CSSR wird stärker mit den südeuropäischen Ländern konkurrieren.

Boldt: Ja, aber das ist eine Preisfrage und eine Frage der politischen Entscheidung.

Und da scheint mir bei der Partnerschaft mit Bratislava wichtig, daß die Slowakei sich einen beträchtlichen Freiraum erkämpft hat, schon in den siebziger Jahren. Deswegen glaube ich, daß Bratislava gerade als zweites Zentrum neben Prag eine gute Partnerstadt für Bremen ist. Sie hat einen großen Nachholbedarf an Auslandsbeziehungen. Auch was den wissenschaftlichrn Austausch angeht, hat Bratislava bisher ganz im Schatten Prags gestanden.

Also nicht, wie Bernhard Baumeister gesagt hat, nur „Friede, Freude...“

Boldt: Nein.

Fragen: K.W.

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