Estnische Volksfront rot-grün für Perestroika

Erster Kongreß der „Estnischen Volksfront“ mit Delegierten aus dem ganzen Land wählte einen Vorstand / Breit verankerte Volksfront beruft sich auf Lenin / Forderungen: Nationale Unabhängigkeit und Umgestaltung der Gesellschaft  ■  Aus Tallinn Beate Strenge

In der Sowjetrepublik Estland wird die „Volksfront für Perestroika“ immer mehr zur treibenden politischen Kraft. Auf dem ersten Kongreß der „Eesti Rahvarinde“ (Estnische Volksfront), der am Wochenende in Estlands Hauptstadt Tallinn stattfand, wählten 3.267 Delegierte von Initiativgruppen aus dem ganzen Land einen Vorstand. Am Samstag Abend bildeten über 10.000 Menschen eine vier Kilometer lange Kette um den Tallinner Domberg - einst Herrschaftssitz des deutsch-baltischen Adels, heute Sitz der Kommunistischen Regierung Estlands.

Hauptziele der Bewegung, die etwa 50.000 aktive Anhänger hat, sind die radikale Demokratisierung Estlands und eine weitgehende politische, wirtschaftliche und kulturelle Autonomie. Auf dem Programm stehen: Eigene Staatsbürgerschaft, Estnisch als Staatssprache, eigene Währung, die Förderung von Kooperativen und Privateigentum sowie eigenständige Beziehungen zu westlichen Ländern. Ferner soll Umweltschutz zum obersten Gebot der Wirtschaft gemacht werden.

„Dekolonialisierung“ nennen die Esten den ersten Schritt zur Anvisierung der Umwandlung. Moskau soll anerkennen, daß 1940 nicht eine sozialistische Revolution, sondern der Hitler-Stalin-Pakt und die darauf folgende militärische Okkupation der damals seit 20 Jahren selbständigen Republik Estland ein Ende gemacht hat. Außerdem soll veröffentlicht werden, wieviel tausend Esten in den Folgejahren nach Sibirien verschleppt worden sind.

Trotz dieser grundlegenden Abrechnung mit der offiziellen Geschichtsschreibung verlangt die Volksfront - im Gegensatz zu der kürzlich gegründeten kleinen „Estnischen Unabhängigkeitspartei“ - nicht den Austritt aus der Sowjetunion. „Wir wollen loyale Partner Moskaus sein, aber keine Befehlsempfänger“, sagte die Volksfront-Vertreterin Marju Lauristin. Entschieden wendet sich die estnische Volksfront gegen die aus Moskau gesteuerte Planwirtschaft, die Estland Großtechnologie, Umweltverschmutzung und viele russische Arbeiter ins Land gebracht hat. Der Anteil der nicht-estnischen Bevölkerung macht inzwischen fast 40 Prozent, in Tallinn sogar 50 Prozent aus. Die nur knapp eine Million Menschen zählenden Esten fürchten eine zunehmende sprachliche und kulturelle Überfremdung. Hartnäckige anti -russische Aversionen („Die Russen sind dumm und faul. Warum bleiben sie nicht zu Hause? Sie haben doch selber gutes Land.“) nehmen in der estnischen Bevölkerung zu. Im Gegenzug haben russische Einwohner in Estland mit einigen Nationen die sogenannte „Internationale Front“ gegründet. Die Estnische Volksfront will sich jedoch keineswegs als nationalistisch verstanden wissen. Sie beruft sich auf die Föderalismus-Ideen Lenins und fordert gleichberechtigte Beziehungen zu allen Nationen.

So fehlten auf dem Tallinner Kongreß denn auch nicht die Grußtelegramme und Gastdelegationen von Volksfront -Initiativen aus Moskau, Leningrad, der Ukraine, aus Armenien, der Tschechoslowakei und von den baltischen Nachbarländern Lettland und Litauen. Die estnische KP, zumindest ihr progressiver Teil, hat sich der im April dieses Jahres initiierten Volksfront-Bewegung inzwischen angeschlossen.

KP-Chef Vaino Vaeljas, seit Juni im Amt und seither Hoffnungsträger Nummer eins, bekräftigte auf dem Kongreß unter großem Beifall noch einmal die Bereitschaft der Partei zur Zusammenarbeit mit der Volksfront, in deren Reihen 28 Prozent der Parteimitglieder mitwirken.

Auch der in der vergangenen Woche neugewählte Vorsitzende der Parteijugendorganisation Komsomol, Urmas Laanem, ist in der Volksfront aktiv. Auf lokaler Ebene ist solche Harmonie oftmals nicht vorhanden. Volksfront-Delegierte aus vielen Landesteilen klagten auf dem Kongreß über die Rückständigkeit und Feinseligkeit der örtlichen Parteiinstanzen. Eine wichtige Rolle in der neuen Bewegung spielen die im Mai gegründeten Grünen, deren Ziele uneingeschränkt unterstützt werden. Die Grünen stellen etwa zehn Prozent der Volksfront-Mitglieder, sind aber eine eigene Organisation, die in vielen Forderungen radikaler ist als die Volksfront.

„Revolution“ gehörte am Wochenende zu den meistgebrauchten Worten auf dem Tallinner Kongreß. Tatsächlich herrscht in ganz Estland eine revolutionäre Stimmung. Aber eine ausnehmend friedliche und disziplinierte. Die Leute gehen zur Arbeit, die Straßenbahn fährt, die Post funktioniert. Doch nach Feierabend gibt es nur ein Thema in Kneipen, Wohnungen, Straßen: Nationale Unabhängigkeit und Umgestaltung der Gesellschaft.