DER FLUSS DES BUCHES DURCH DIE BIBLIOTHEK

■ Über Grobkollationierung, Steilkarteien, Kanalisation, Signaturkontingente, Besitzmarkierung und Schwemmstoffe

Immer wieder gerate ich in Schwierigkeiten, wenn ich die geheimen Verrichtungen in den innersten Arbeitsräumen der Bibliothek beschreiben soll. Den Uneingeweihten ist kaum klarzumachen, warum ein der Bibliothek geliefertes Buch nicht sofort ins Magazin wandert, wo es, seiner Bestimmung gemäß, für jeden wissensdurstigen Benutzer verfügbar ist. Mit ungläubigem Staunen wird meist meine Bemerkung quittiert, das dauere doch, wie jedermann wohl wisse, günstigstenfalls sechs Wochen. Nicht selten fallen die Gesprächspartner rasch auf ein niedriges Denkniveau herab und äußern mit einem laienhaften Lächeln um die Lippen, die deutsche Beamtenschaft sei ja bekannt für ihre Langsamkeit. Das muß ich als eine Provokation empfinden und so zögere ich nicht, die Sinnhaftigkeit bibliothekarischen Tuns ins rechte Licht zu rücken und ausführlich die Ursachen der angeblich zu langen Bearbeitungsdauer darzulegen. Wenn ich beginne, von Grobkollationierung, Inventarisierung und den Steilkarteien zu plaudern und die Funktionen des Leitstellenregals zu erläutern, dann kann ich schon im voraus den Moment absehen, an dem eine Hand abfällig abwärts bewegt und dem ganzen Thema das Wasser abgegraben wird mit Bemerkungen wie: „Jaja, schön und gut, aber du mußt doch selbst zugeben, daß sechs Wochen für ein Buch, das benutzt werden soll, viel zu lang sind.“ Oft und immer wieder muß ich dergleichen erleben. Verletzungs- und Entrüstungsgefühle plagen mich. Ich weiß es doch schließlich besser. Dann suchte ich aber, dem Rat führender Kommunikationswissenschaftler folgend, den Fehler erst einmal bei mir selbst. Meinen Darstellungen muß es wohl an der rechten Klarheit gemangelt haben, sagte ich mir. In Stunden schlaflosen Grübelns erinnerte ich mich, daß die Rhetorik einen metaphorischen Bezugsrahmen empfiehlt, wenn Kompliziert-Abstraktes konkret faßbar dargestellt werden soll. Nach weiterem Grübeln kam mir die erlösende Idee: Die Hydrotechnik, der Wasserbau sollte die Vergleichssphäre werden, an der modellhaft das Fließen und Stagnieren der Büchermengen, ihre Kanalisation, Umleitung und Aufbereitung dargestellt werden könnten. So habe ich mir jüngst eine kleine Sammlung von Fotos zugelegt, habe einige Diagramme entworfen und bin gegenwärtig in meiner Freizeit damit beschäftigt, ein großflächiges halbplastisches Landschaftsrelief herzustellen, an dem auf anschauliche und fesselnde Weise der wassergleiche Lauf der Bücher durch die Bibliothek dargestellt werden kann. Mit Hilfe dieser Materialien hoffe ich, meinen ahnungslosen Gesprächspartnern bei guter Gelegenheit soviel Interesse ablocken zu können, daß ich das Sechs-Wochen-Problem wenigstens einmal ausführlich und ununterbrochen erläutern kann, ohne befürchten zu müssen, daß sie sich mit oder ohne Handbewegung abwenden und mich als langweilige Beamtenfigur einfach stehen lassen. Als eine Sprechvorlage, an die ich mich bei meinen Erläuterungen zu halten gedenke, habe ich den hier abgedruckten Text entworfen, den ich den kritischen Augen der KollegInnen und auch fernerstehenden Interessenten unterbreiten möchte, in der Hoffnung, daß kritische Anteilnahme und Verbesserungsvorschläge die Qualität des Textes mit der Zeit auf Höchstniveau heben werden.

Aus dem unermeßlichen Bücherstrom, der seit unvordenklichen Zeiten die Welt durchfließt, wird durch selektive Bestellvorgänge ein Seitenlauf von wissenschaftlich relevanter Literatur abgezweigt, der aus dem Quellbecken des Buchhandels in die Reservoire der Universitätsbibliothek flutet und brandet. Von diesem Strom werden sogleich mehrere Seitenarme abgeleitet: Die Zeitschriften und Zeitungen, die Pflichtexemplare, die nicht im Buchhandel erschienenen Dissertationen, die Ansichtsexemplare sowie Tausch- und Geschenklieferungen, die alle einer gesonderten Verarbeitung zugeführt werden, ehe sie sich am Ende dem stetig strömenden Magazinzufluß wieder beimischen. Der verbleibende Rest, immerhin der breiteste Teil des Stromes, staut sich zunächst in den Buchhändlerregalen und kommt dort für eine wechselnde Anzahl von Tagen zur Ruhe.

Aus diesem Staugut werden die Bücher schwallweise auf die Schreibtische der Bibliothekare und -innen der Erwerbsabteilung geschwemmt, wo sie einer ersten geregelten Aufbereitung unterzogen werden. (Schwallweise! Gibt es eigentlich einen größeren Schrecken als deutsche Beamte, die geschwätzig sind? d. säzzer) Geregelt ist alles in den sogenannten Consuetudines, mit denen die Bewältigung auch ausgefallener und schwieriger Stücke möglich ist. Selbst für die Bearbeitung der einfachsten Buchformen, erste Auflagen von Monographien, die zu keiner Fortsetzung oder Serie gehören, sind mindestens zwölf Arbeitsgänge erforderlich: 1. Grobkollationieren, das ist das Prüfen eines Buches auf eventuelle Qualitätsmängel und auf Vollständigkeit; 2. Vergeben der Signatur aus einem der sieben Signaturenkontingente, womit auch der künftige Standort des Buches festgelegt ist; 3. Eintragen der Signatur ins Buch; 4. Einkleben des vorgefertigten maschinenlesbaren Etiketts ins Buch; 5. Auftragen der Signatur auf die Rechnung; 6. Signatur und Rechnungsdatum auf den vierfachen Bestellzettel schreiben - hiermit wird zugleich die „Inventarisierung“ erledigt; 7. Markieren des „Ersten Ordnungswortes“ auf dem Zettelsatz; 8. Signatur auf den Laufzettel des Buches schreiben, vorgegebene Felder ankreuzen sowie Tagesdatum und Bearbeiterzeichen eintragen; 9. Signatur auf den Statistikbeleg schreiben; 10. Zuordnen des Buches zu einer Fachsystemgruppe für Zwecke der Erwerbungsstatistik; 11. Prüfen der Rechnung, Markieren von Sonderbeiträgen; 12. Ablagerung der bei der Aufbereitung angefallenen Schwemm und Schwebestoffe (Belege und Zettel) an den dafür vorgesehenen Stellen.

In schwierigeren Fällen als diesem sind weit mehr und auch kompliziertere Arbeitsschritte nötig, um alle Nachweise über Herkunft und Verbleib des Buches zu sichern und um es für seinen weiteren Gang durch die Bibliothek vorzubereiten. Der Anschein von Pingeligkeit, den selbst diese verkürzte Darstellung erzeugen könnte, trügt. Bei einer ungeregelten und laschen Verfahrensweise würden die Bücher unauffindbar versickern oder doppelt und dreifach emporstrudeln. Genaues Arbeiten ist der bibliothekarische Ausdruck des Verantwortungsgefühls gegenüber dem Steuerzahler, der letztlich alles finanziert.

Wenn nun ein derart erstverarbeiteter Bücherschwall zum Stempeltisch geleitet wird, so hat er schon eine Wegstrecke von annähernd zwanzig Metern hinter sich gebracht, was am Modell natürlich nur in stark reduziertem Maßstab dargestellt werden kann. Auf dem Stempeltisch finden einige vorher umgeleitete Einzelströme wieder zueinander. Ihrem mäandrischen Lauf durch das Haus oder auch durch die Buchbinderwerkstätten auswärts nachzugehen, wäre der angestrebten Klarheit der Darstellung abträglich. Es genüge, wenn ich auch die Stempelanweisung mit ihren elf Positionen nur am Rande erwähne.

Sind die Besitzmarkierungen in den Büchern angebracht, so werden diese im Stempelstellenregal abgelegt, bis nach Verlauf einer Woche der Staudruck dort eine Höhe erreicht, der den Fortfluß der Bücher um weitere zwanzig Meter erzwingt. An jedem Freitag neu schäumt die Flutwelle dieser Bücher aus der Erwerbsabteilung ins Leitstellenregal, das eine Staustufe eigener Art bildet, die in meinem Modell durch ein Absetzbecken dargestellt ist. Hier nämlich verbleiben die Bücher genau eine Woche. Jedermann kann das Gesamtpanorama der Neuerwerbungen der Bibliothek überblicken. Letzte Standort-Korrekturen werden am Leitstellenregal ausgeführt, wenn etwa ein Buch, das für den Lesesaal taugt, für die Magazinaufstellung vorgesehen wurde.

Am darauffolgenden Freitag wird das Absetzbecken geöffnet und der Katarakt der Bücher wird durch das Pumpwerk des Verteilertisches über eine Wegstrecke von etwa fünfzehn Metern in einem Verrieselungsprozeß auf die Schreibtische der Titelaufnehmer und -innen abgeleitet. Dort werden an ihnen die Arbeitsprozesse vollzogen, deren Ergebnisse dem Bibliotheksbenutzer später in Gestalt der Katalogkarten zu Gesicht kommen: Der Buchtitel wird in die bibliothekarische Katalogform umgegossen und auf Datenblätter fixiert - und zwar in zweierlei unterschiedlicher Gestalt. Denn unter der Hand vollzieht sich ein Entmischungsprozeß, aus dem am Endpunkt der Verrieselung zwei getrennte Fließbahnen herauskommen: a) Bücher des konventionellen Geschäftsganges und b) Bücher des integrierten Geschäftsganges. Beim ersten strömen die Bücher nach einer kleinen Ablagerungsdauer erneut auf den Verteilertisch zur nächsten Verrieselung in die Regale der Fachreferenten; beim letzteren, dessen Kraft und Eigenheiten hier nicht dargestellt werden können, werden die Bücher ins vierzig Meter entfernte Schreibzimmer geschleust. Die hier auf Druckfolien übertragenen Titelaufnahmen bilden ein Sediment, das nach dem Abströmen der Bücher selbst im Schreibzimmer zurückbleibt und von dort in die Druckerei abtransportiert wird, wo nun der Katalogkartendruck unabhängig vom weiteren Lauf der Bücher erfolgen kann.

So glatt, wie ich es hier notiert habe, kann ich das am Modell aber nicht vorführen. Im Bereich des Schreibzimmers wird meine Modell-Landschaft zum ausgetrockneten und durchhöhlten Karstgebiet, in dem selbst wasserreiche Ströme auf einige Zeit versickern können. Der Gang des einzelnen Buches wird hier nämlich unübersichtlich und ist mit unbewaffnetem Auge kaum mehr zu verfolgen. Nur wenn sein Format und seine Einbandgestalt hinreichend bekannt sind, besteht Hoffnung, ein gewünschtes Buch im Dunkel unterirdischen Gewoges zu ermitteln. Obwohl die generelle Knappheit an Schreibkräften und zusätzliche Stellenstreichung hier einen Engpaß geschaffen haben, ist doch gewiß, daß der Buchfluß nach angemessener Frist wieder an die Oberfläche tritt und in die Titelaufnahme zurückströmt, wo Korrektur gelesen wird. Nach einer abermaligen Ablagerungszeit führt der Lauf der Bücher erneut auf den nun schon sattsam bekannten Verteilertisch und von da, nach Fachgebieten sortiert, in die Regale der Fachreferenten.

Sie haben nun mehr als hundert Meter bewegten Bibliotheksgefälles hinter sich und hätten wohl eine Spanne der Rast verdient. Aber das Schicksal und die Strömungsverläufe haben anderes über die Bücher verhängt. Beim Fachreferenten geraten sie in heftigste Turbulenz. In den kleinen Stößen eines Tagespensums werden sie aus dem Reservoir geschöpft und durchs Haus geschleppt, vom Regal aufs Zimmer, vom Zimmer zum Katalog, am Katalog hin und her, und nachdem das sekundäre Material um die Schlagwort -Notierungen vermehrt worden ist, unter denen die Katalogkarten später im Schlagwortkatalog erscheinen, werden die Bücher wieder hinab aufs Titelaufnahme-Niveau transportiert, um dort für eine Nacht im Schlußstellenregal zu verweilen, von wo sie am nächsten Morgen auf abermals zweifachen Wegen weiterbewegt werden. Die Bücher des konventionellen Geschäftsganges erreichen erst jetzt die Karstgebiete der Schreibzimmer-Region; die Bücher des integrierten Geschäftsganges fließen zur Schlußstelle, die ich schon im Mündungsteil meines Modells ansiedeln kann, wo die unterwegs von der Strömung mitgerissenen Materialien und Ablagerungsstoffe ein breites Delta bilden. Denn in der Schlußstelle wird nicht allein letztinstanzlich der ordnungsgemäße Durchlauf der Bücher durch den Geschäftsgang überprüft, es werden darüber hinaus die das Buch begleitenden Schutzumschläge, Datenblätter und Farbstreifen von ihm abgeschieden, Datenblätter und fertig gedruckte Katalogkarten werden zusammengeführt, die Kartenanteile für das Depot und die verschiedenen Kataloge werden herausgefiltert und weitergeleitet.

Die Bücher selbst erhalten, wenn alles als bestimmungsgemäß erledigt anerkannt wird, eine Schlußmarkierung, mit der sie versehen durch einen allerletzten Engpaß gepumpt werden: den Signaturendruck. Mit ganz wenigen Ausnahmen (Bücher der Lehrbuchsammlung und nicht im Buchhandel erschienene Dissertationen) müssen alle Bücher, wie weit herum sie auch verschlagen gewesen seien, diesen Durchlaufspunkt passieren. Keines darf nämlich an seinem endgültigen Standort erscheinen ohne ein Schildchen auf dem schmalen oder breiten Rücken (oder, wenn kaum ein Rücken vorhanden ist, auf dem vorderen Buchdeckel), dem die im ersten Bearbeitungsschritt vergebene Buchsignatur in gut lesbaren Ziffern aufgedruckt ist. Danach erst beginnt, auf vielfältigen Benutzungswegen, das eigentliche Bibliotheksleben der Bücher, das zu beschreiben aber den Rahmen dieser Modell-Erläuterungen bei weitem überschreiten würde. (Außerdem müßte der Leser dann eine Pinkelpause einlegen, panta rei! d. säzzer)

Wie einfach doch hatten es sich die Erbauer der Universitätsbibliotheken einstmals gedacht! Dort, wo jetzt das Foyer sich breitet, sollten die Bücher hereinkommen, in horizontalem Verlauf im Erdgeschoß die verschiedenen Bearbeitungsstellen durchlaufen, kurz vor der Magazintür sollten sie ihr Signaturenschildchen erhalten und geradenwegs in die matt erleuchtete Stille (Stille, oh welch ein Wort in all dem Geplapper! d. säzzer) der weiträumigen Magazinhallen eingehen. Wie einfach auch wäre damals der Gang des Buches mit einer gradlinig nach vorn weisenden Handbewegung zu beschreiben gewesen. Schon Goethe hat diese Problematik treffend erfaßt, als er schrieb: „Weh dir, daß du ein Enkel bist“. Nun ist die ursprüngliche Vernunft nicht gänzlich zur Plage geworden und Wohltat nicht allerorten zur Pein. Aber die Mühsal der Beschreibung eines noch komplizierter gewordenen Bücherbewegungssystems wird mit dem Hingang der Zeiten nicht geringer werden. Das Modell, das meine Enkel einmal von noch verschlungeneren Gängen der Bücher zu ersinnen haben werden, um Begriffsstutzigen ein Licht aufzustecken - das möchte ich mir nicht ausdenken müssen.

Ulrich Goerdten

(aus: Bibliotheks-Informationen der UB der FU)