Kühler Kopf und waches Auge

Der Berliner Boxer Graciano Rocchigiani verteidigt seinen IBF-Weltmeistertitel im Supermittelgewicht / In der elften Runde fliegt für Chris Reid das Handtuch  ■  Aus Berlin Matti Lieske

„Gegen einen ordentlichen Faustkampf zweier erwachsener Männer ist nichts einzuwenden“, sprach einmal der freie Pädagoge A.S.Neill. Der US-Bürger Chris Reid dürfte am Freitag abend gänzlich anderer Meinung gewesen sein. Da verließ er nämlich schwer lädiert den Ring der Berliner Deutschlandhalle, nachdem ihn der einheimische amtierende Weltmeister der „International Boxing Federation“ (IBF), Graciano Rocchigiani, vor rund 5.300 Zuschauern nach allen Regeln der Boxkunst verhauen hatte.

„Der is ja in jede Linke rinjeloofen“, wunderte sich der Berliner später zu Recht, denn der stämmige New Yorker, der seiner irischen Abstammung entsprechend „Shamrock-Express“ (Kleeblatt-Express) genannt wird, war mit hohen Vorschußlorbeeren angereist. 1980 hatte er sich für das Olympiateam der USA qualifiziert und war dann dem Boykott der Moskauer Spiele zum Opfer gefallen.

Von seinen 23 Profikämpfen hatte er erst einen verloren, und zwar gegen Fulgencio Obelmejias (Venezuela), den amtierenden Weltmeister der World Boxing Association (WBA), als er, nach Punkten führend, wegen einer Augenbrauenverletzung gestoppt wurde. Zweimal hatten seine Kämpfe ohne Entscheidung geendet, weil sein Dickschädel mit den offenbar ähnlich konstituierten Häuptern seiner Kontrahenten kollidierte und danach beide Boxer kampfunfähig waren. Ein harter Brocken also, zu hart für Rocchigiani, wie viele Experten meinten.

Der Ringrichter des Kampfes hieß Frank Capuccino, und genauso sah er auch aus. Beim Erscheppern der US -amerikanischen Nationalhymne bedeckte er züchtig sein Herz mit der Hand und wurde nur von Graciano Rocchigiani im Goldkittelchen übertroffen, der das bundesdeutsche Pendant stocksteif wie ein Zinnsoldat über sich ergehen ließ. Der Shamrock-Express tänzelte derweil recht desinteressiert in der Gegend herum.

Dann ging es zügig los, und als sich Mr. Capuccino beim Schlußgong der ersten Runde mutig in den Schlaghagel warf, war bereits klar, daß er an diesem Abend wohl länger arbeiten müßte als bei seinem letzten vielbeachteten Auftritt. Da hatte nämlich der brachiale Schwergewichtschamp Mike Tyson seinen Herausforderer Spinks innerhalb von zwei Minuten ins Land der Träume geschickt.

Chris Reid machte der Kleeblatt-Tätowierung auf seinem Oberarm alle Ehre und befleißigte sich desselben Kampfstils, mit denen schon seine Vorfahren einst plündernde und marodierende Wikinger mit Angst erfüllten. Rocchigiani jedoch ließ sich nicht erschrecken, schließlich fließt auch in ihm das Blut streitbarer Ahnen; das jener sardischen Banditen und Rebellen nämlich, die in den Bergen um Nuoro auf eine jahrhundertealte Tradition des Kampfes gegen Imperialismus, Carabinieri, den IWF und seine Vorläufer zurückblicken können.

Mit geschliffenen rechten Geraden stoppte der weltmeisterliche Rechtsausleger immer wieder die ungestümen Anriffsversuche des schlagwütigen Kleeblatts, um dann mit schnellen linken Haken emsig Punkte zu sammeln, ohne der Aufforderung aus dem Publikum „Hau ihn nieder!“ vorerst jedoch Folge leisten zu können.

Dafür wurden die Beine des Herausforderers immer schwerer, während Ringrichter Capuccino noch leicht und locker wie ein Milchschaumhäubchen um die Kämpfer herumtänzelte und sie wachsam wie eine Katze beim Mausen beäugte. Er hatte jedoch wenig zu tun. Graciano Rocchigiani boxte, als posiere er für einen Lehrfilm, mit kühlem Kopf, wachem Auge und präzisen Schlägen hielt er den Shamrock-Express streng auf Distanz und traf, wie es ihm beliebte. Vor allem in der elften Runde. Da konnte sich Chris Reid nach einem Schlaghagel des Berliners nur noch mit Mühe auf den Beinen halten, der Trainer des Amerikaners hatte ein Einsehen und warf das Handtuch zwecks Aufgabe.

Mit diesem Sieg hofft Rocchigiani nun endlich den Durchbruch zum großen Geld geschafft zu haben, obwohl sein Titel der unbedeutendste in seiner Gewichtsklasse ist, wo der im Profiboxen übliche Wirrwarr herrscht: drei Verbände, drei Weltmeister. Und inzwischen tummeln sich im Supermittelgewicht Gestalten, denen auch ein Rocchigiani in Topform besser weiträumig aus dem Weg gehen sollte.

Am 4. November wird der amtierende WBA-Weltmeister Obelmejias in Las Vegas gegen Tommy Hearns antreten, jenen Mann, der schon in vier Gewichtsklassen Weltmeister war und nun den Titel in einer fünften anstrebt. Dasselbe Kunststück versucht am 7. November ebenfalls in Las Vegas der weltbeste Boxer der letzten 15 Jahre, Sugar Ray Leonard. Er wird sich mit der neuesten „großen weißen Hoffnung“, dem Kanadier Donny Lalonde, um den Titel des „World Boxing Councils“ (WBC) hauen.

Die Zukunfstpläne Rocchigianis sind vernünftigerweise eine Nummer tiefer angesiedelt. Sein nächster Auftritt wird höchstwahrscheinlich in Paris gegen den französischen Meister Chris Tiozzo stattfinden. Da könnte allerdings eine ebenso alte wie bittere Erkenntnis des Profiboxens auf ihn warten: Ein Weltmeister, der sein heimisches Terrain verläßt, ist den Titel oft schneller los, als er „knock-out“ sagen kann.