Sexualwissenschaft ist kein Moralersatz

Sexualforschung will keine neuen Normen setzen, doch der Erwartungsdruck ist hoch / Martin Dannecker, Vorsitzender der „Deutschen Gesellschaft für Sexualforschung“, zum Selbstverständnis seiner Disziplin  ■ I N T E R V I E W

taz: Sexualforschung in Deutschland wurde und wird vor allem betrieben von Homosexuellen, von Schwulen: Magnus Hirschfeld in den 20er Jahren, Hans Giese in den 50ern, Helmut Kentler und Dannecker heute.

Martin Dannecker: Ich glaube nicht, daß das so stimmt. Bedenkt man die Fülle sexualaufklärerischer und sexualwissenschaftlicher Arbeiten damals und besieht sich die Autoren, so stimmt das historisch nicht. Auch für die gegenwärtige Sexualforschung stimmt das nicht.

Daß man es dennoch so wahrnimmt, liegt vielleicht daran, daß das Thema Homosexualität immer ein Schwerpunkt sexualwissenschaftlicher Arbeit war.

Das hat etwas mit der Konstitution von Sexualforschung zu tun. Sie fing an, will man es neutralisiert ausdrücken, sich mit den Sonderformen von Sexualität zu beschäftigen. Diese Auseinandersetzung, die ja auch immer mit der Frage nach Normalität einhergeht, bestimmte die weitere Forschung und ging auch in die Psychoanalyse ein, in der es auch kein normales Konzept von Sexualität gab, sondern über Perversionen und sonstige abweichende Sexualität verhandelt wurde. Durch diese Beschäftigung, diese Konzentration, kommt es, daß immer wieder Leute, die ein Verständnis von Sexualwissenschaft haben - sei es durch ihren eigenen Lebensentwurf oder ihr Lebensschicksal -, notwendigerweise bei solchen Fragestellungen landen. Bis heute denke ich immer noch, daß eine theoretische und sonstige gelungene Auseinandersetzung mit Homosexualität auch viel über das Geschlechterverhältnis aussagt und viel über den Umgang mit Sexuellem. Bei so prononcierten Personen wie Hirschfeld oder Giese kam das Interesse hinzu, mit der Verwissenschaftlichung der Homosexualität dieser einen anderen sozialen Standort zu geben.

Haben homosexuelle, schwule Sexualforscher per se ein anderes Interesse an der sexuellen Frage als ihre heterosexuellen Kollegen?

Das kann ich zunächst einmal nur für meine Person beantworten. Ich habe mir gerade in der letzten Zeit immer wieder überlegt, warum ich meine Arbeit mit einer empirischen Studie über Homosexuelle begonnen habe (zusammen mit Reimut Reiche: Der gewöhnliche Homosexuelle d.Red.). Ich begann als jemand, der homosexuell wurde und als Laie an diesen Fragen interessiert war. Auf gelehrten Vorträgen, in der Literatur begegnete mir viel, das mir außerordentlich dubios und unwahr erschien. Darauf habe ich ganz emphatisch mit einem Verlangen nach Wahrheit reagiert und beschlossen, eine solche Untersuchung zu machen, um bestimmte Vorstellungen zu korrigieren. Damit verbunden war die aufklärerische Hoffnung, wenn mit negativen Konnotationen verbundene Aussagen über eine in besonderer Weise sexuell miteinander verkehrende Gruppe Auswirkungen haben, dann müssen auch positive Aussagen etwas bewirken.

Wann ist man ein Sexualwissenschaftler?

So albern das klingt, aber ein Sexualwissenschaftler kann nur der sein, der die Beschäftigung mit diesem Gegenstand in organisierten Zusammenhängen betreibt. Das muß sich aber nicht beschränken auf akademisch organisierte Zusammenhänge. Hinzu kommt, daß die Beschäftigung mit dem Gegenstand sich auf bestimmte methodische Überlegungen einlassen muß, sonst wird es zu privat.

Einerseits ist jeder einzelne der beste Experte seiner Sexualität, und andererseits verlangt er nach Erkenntnissen, die zu verallgemeinern sind, nach Lehrsätzen, nach dem außenstehenden Wissenschaftler, der das Chaos ordnen soll.

Ein Stück der Faszination der Sexualforschung - und das ist sehr problematisch - ist die, daß sie das liefert, was früher die Normen geliefert haben. Die Normen schränkten ein, sie strukturierten aber auch. Diese Erwartung wird auch auf die Sexualforschung übertragen. Das ist das Dilemma, dem sie sich immer wieder entziehen muß und wodurch sie auch immer wieder Enttäuschungen produziert.

Es gibt ausreichend Beispiele dafür, daß das Wissen um die Homosexualität von Sexualforschern die Akzeptanz ihrer Arbeitsergebnisse behindert.

In einer Gesellschaft, in der es funktioniert, jemanden über sexuelle Zuschreibungen und Generalisierungen abzuwerten, darf das nicht überraschen. Aber das wütende Geschrei geht eigentlich gegen die Resultate. Natürlich funktionierte es nicht, gegen heterosexuelle Sexualforscher mit dem Vorwurf der Heterosexualität vorzugehen. Das beweist auf die platteste Art, was kulturelle Normalität ist. Der Vorwurf der Homosexualität wird immer wieder kommen, und vielleicht will man sogar damit die homosexuellen Forscher vor sich selbst in Schutz nehmen. Das ist die größte Unverschämtheit, und dem muß man standhalten.

Frauen waren bislang in der Sexualforschung als Wissenschaftlerinnen unterrepräsentiert.

Das stimmt. Es gab nicht viele Frauen, wenn man die kurze Geschichte der deutschen Sexualforschung bedenkt. Das liegt sicherlich auch daran, daß der Diskurs über Sexualität bis in die recht feinen theoretischen Verästelungen hinein nicht nur Heterosexualität meinte, sondern auch die ausschließlich männlichen Vorstellungen davon. Ich habe es mal polemisch formuliert, daß nach all den Begriffen, mit denen hier verhandelt wird, Frauen überhaupt keine Sexualität haben. Die Auseinandersetzung, die jetzt vor allem aufgrund der feministischen Kritik daran geführt wird, ist außerordentlich spannend und längst überfällig. Der scheinbar abstrakte Sexualitätsbegriff, der deshalb ein schlechter war, weil darin immer das Reden über weibliche Sexualität fehlte, wird sich auflösen.

Interview: Elmar Kraushaar