: Die Befreiung von den Befreiern
■ Algeriens Jugend rebelliert gegen ihre altgewordenen revolutionären Väter
Algier wartet heute auf das Ende des Freitagsgebetes: Wird der heutige islamische Feiertag Anlaß zu neuen Demonstrationen sein? Während Präsident Chadli eine Volksbefragung über eine Verfassungsänderung zur „größeren Demokratisierung des politischen Handelns“ ankündigte, werden aus der Provinz Kabylei bereits neue Zusammenstöße gemeldet.
Algier (taz) - Vom hohen Eingang des Kader-Gymnasiums versperrt nur ein einziges Gebäude den Blick aufs Meer: für die Schüler liegt hier der Strand unter dem modernen Marmorsteinen des Polizeihauptquartiers begraben. Heute wacht die Armee zwischen Schule und Polizei. Sie hat an diesem Ort ihren letzten strategischen Rückzugspunkt in der Stadt gewählt. „Hier“, sagt ein Soldat, „liegt das Herz Algiers.“
Die Revolte traf das Herz der Stadt. Das „Blutbad von Bab -el-Oued“, so der Name des angrenzenden Arbeiterstadtteils, geschah vor den Toren der Schule, wo die Unruhen sechs Tage zuvor mit einem Schülerstreik begonnen hatten. Noch immer ist die Schule geschlossen, nur der Hausmeister ist zurückgekehrt. „Die Schlacht ist geschlagen“, analysiert er.
Der Sieger steht nicht fest. „45 Tage haben wir im lezten Jahr erfolglos gestreikt“, erzählt Djamel, Student der Politologie. „Jetzt aber haben alle die Explosion gespürt. Die Dinge kommen in Bewegung.“ Er zeigt dabei auf die frisch erstandene Wochenzeitung. Ihre Schlagzeile: „Nichts wird mehr wie früher sein.“
Algerien entdeckt eine neue Vision der Vergangenheit. Früher, das ist nicht mehr die Kolonialzeit - vergangen sollen nun auch die Zeiten der ungebrochenen Parteiherrschaft der FLN sein. „Das ist doch logisch“, meint Djamel. „Die Alten haben den Krieg erlebt und waren froh in Frieden zu leben. Wir aber wollen mehr. Unsere Vergangenheit ist die FLN. Nur über unsere Zukunft wissen wir nichts.“
Das neue Zeitgefühl hat inzwischen bei Staatspräsident Chadli Bendjedid eingeschlagen. Nunmehr setzt er alles daran, um den Eindruck zu erwecken, daß er seiner Zeit vorauseilt. Montag versprach Chadli, den Willen der Nation Rechnung zu tragen, Dienstag beendete er den Belagerungszustand und noch am Mittwoch abend verkündete er ein Volksreferendum.
Was kommt jetzt? Bei der FLN-Jugendorganisation in Algier ist man besorgt. Ihr Sekretär schiebt mich in ein kleines Zimmer. Will seinen Namen nicht nennen, dafür aber als freier Jugendsekretär sprechen: „Die Lage ist fatal.“ Er erzählt von den letzten Tagen, wie junge Polizisten, vielleicht überfordert von den neuen Ereignissen, das Feuer eröffneten. „Die Toten sind unschuldig.“ Er will, er kann nicht glauben, daß der Schießbefehl von oben kam. Aber was nun? „Der Prozeß war von jugendlicher Begeisterung getragen. Die Leute sangen Fußballsprechchöre, von politischen Slogans keine Rede. Eigentlich durfte uns das nicht überraschen. Wir leben in einer Zeit, in der politische Erklärungen und Ideen für die meisten keine Bedeutung mehr haben.“
An der Straßenecke sitzen vier junge Teenager. „Habt ihr demonstriert?“ - „Nein.“ - „Wer dann?“ - „So Leute, wie wir.“ - „Wird es weiter gehn?“ - „Vorläufig nicht, die Fußballmeisterschaft hat angefangen.“ Neben uns steht ein junger Arzt: Khaleb Belkhir. „Du mußt wissen“, sagt er, „ich liebe dieses Land. Am Morgen schlagen die Leute alles kurz und klein, und am Abend räumen sie die Scherben selbst wieder weg. Ich glaube nicht, daß die Jugend gegen den Staat demonstrieren wollte, sie wollte sich bei ihm bemerkbar machen, weil er sie vernachlässigt. Shadel beschreibt die Lage von Präsident Chadli: „Er selbst ist nicht unpopulär. Die Leute halten ihn für ehrlich und anständig. Doch er ist umgeben von einer Clique alter Parteifunktionäre und einer Gruppe junger Technokraten, die von den Elite-Schulen Frankreichs kamen. Beide Seiten, die sich gegenseitig behindern, erschweren einen aus der eigenen Kraft kommenden Generationswechsel an der Führungsspitze Algeriens.“ Shadel ist Berber, spricht zu Hause die Sprache seines Volkes und kennt die Proteste in seiner Provinz, der Kabylei. Er teilt sie nicht. „Die Gefahr“, sagt er „kommt heute von den Fundamentalisten. Wir sind ein gläubiges Land. Selbst in der Jugend, wird sich kaum jemand finden, der sagen würde, er glaube nicht an Allah. So gewinnen die islamischen Fanatiker leicht Einfluß bei den ganz Jungen, denen ein gesellschaftlicher Halt heute fehlt.“
Die algerische Jugend, die berreits die Hälfte der Gesamtbevölkerung des Landes stellt, ist zum Spielball aller politischen Interessen geworden. Staatspräsident Chadli versucht sie nun mit einem zumindest formal an der französischen Verfassung angelehnte Demokratisierungsmodell zu locken. Der Präsident soll nur noch eine übergeordnete Rolle spielen, dafür ein von ihm ernannter Premierminister die Regierungsgeschäfte führen. Dieser wäre nicht mehr direkt der Parteispitze, sondern nur dem Parlament verpflichtet. Nach dem Referendum soll im Dezember in einem Parteikongreß über weitere Demokratisierunsmaßnahmen entschieden werden, die dann wiederum den Wählern in einem zweiten Referendum zur Abstimmung vorgelegt wird. Chadli setzt somit voraus, daß die Algerier seinen Reformbewegungen glauben schenken. Die jugendliche Begeisterung aber wird ihm dabei fehlen.
Georg Blume
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