Anarchistische „Papiertiger“

■ Eine Geschichte der anarchistischen Presse von der „883“ zum „Schwarzen Faden“

Seit langem zirkuliert unter AnarchistInnen die folgende Idee eines Witzes über die eigene Presse: „Es treffen sich drei AnarchistInnen, die nicht so recht wissen, wie sie politisch arbeiten sollen. Was passiert wohl? Klar: Sie gründen eine Zeitung!“ Diese linksradikale publizistische Variante eines „Papiertigers“ zu durchmessen, hat sich der Münsteraner Journalist Holger Jenrich zur Aufgabe gemacht.

Um es vorwegzunehmen: Herausgekommen ist dabei mehr als nur ein Gesamtüberblick über das intensiv papierraschelnde Ungetüm der Anarchie. Jenrichs Schrift hat zwar Handbuch -Charakter; hier kommen ihre klare Systematik sowie der Bibliographie- und Registeranhang eindeutig zum Tragen. Erwartungsgemäß werden auch die einzelnen Stationen des anarchistischen Pressewesens von der Zeitschrift „Mahnruf“ bis hin zum „Schwarzen Faden“ sauber recherchiert beschrieben. Dabei verdient natürlich der Konflikt zwischen den Altgenossen und den Jung-Anarchos sowie die Phase der Untergrundblätter während der '68-Revolte, speziell die legendäre „883“, besonderes Interesse.

Völlig neu und ungewöhnlich ist dann aber die „nestbeschmutzerische Radikalität„, mit welcher der Autor seine im anarchistischen Trotzdem Verlag erschienene Betandsaufnahme kritisch abschließt: Der Verbreitungsgrad der Anarcho-Postillen liegt - Zitat „weit unter jener täglich in tausenden Variationen erscheinenden spezifischen Zeitschriften wie beispielsweise den Informationen eines Dackelclubs“ (S. 220), ihr Einfluß auf das kulturelle und politische Leben der Gesamtbevölkerung war und ist praktisch gleich Null.

Die Schuld daran, so Jenrichs Resümee, trägt der „Teufelskreis aus produktionstechnischen Mängeln, journalistischer Unterqualifizierung, Arbeitsüberlastung und finanziellen Engpässen“ (S. 221). Diese Wechselwirkung von harmlosem Dilletantismus, Berichterstattung aus dem linken Szene-Ghetto und weltverbesserischer Schwafelei ist das Charakteristikum der meisten anarachistischen Blätter bis dato geblieben. Ein Teufelskreis, dem zahlreiche Alternativ-Stadtzeitungen durch Zeitgeist-Orientierung auch nur vordergründig entfliehen konnten.

Folglich gilt die Konsequenz, die das Buch exemplarisch für die anarchistische Presse aufzeigt, gleichzeitig für zahlreiche andere linke Periodika: Sie sind purer Selbstzweck. Mit Papier und bloßen Worten ist tatsächlich niemandem geholfen. Daß die Beschäftigung mit der eigenen Geschichte insgesamt mehr zu erreichen vermag als Selbstbeweihräucherung und schöngeistige Erbauung, dazu können Jenrichs Ergebnisse - seiner im übrigen spannend geschriebenen Chronologie - beitragen.

Peter Zitzmann

Holger Jenrich: Anarchistische Presse in Deutschland 1945 -1985. Grafenau: Trotzdem Verlag 1988, 273 S. mit zahlreichen Illustrationen; 34DM