Das weiße Kaninchen mit roten Augen: angstlos

■ „Untergangsgesellschaften“: Barlachs „Armer Vetter“, Gerlind Reinshagens „Feuerblume“ und Peter Greiners „Torffahrer“ am Bremer Theater

Die bürgerliche Welt vor der Katastrophe: Eine Gruppe von Ausflüglern grölt im Chor, säuft und schunkelt und verhöhnt den einen, der nicht mitmacht. Er ist wie sie, nur nicht ganz, und schon diese geringe Abweichung ist unerträglich, muß überspielt, abgewehrt werden, um jeden Preis. Die Katastrophe selbst: An die Stelle aller Blumen ist die Feuerblume getreten, und sie bringt den Tod: Löscht die Wörter aus, nimmt die Luft zum Atmen. Am Ende, als sie fort ist, klammern sich die blind gewordenen Menschen aneinander und stammeln: „Alles ist machbar“. - Beschwörung ihrer Hoffnung und ihrer Ohnmacht. Ein drittes Bild: Ostfriesland

-imaginärer Ort auf grellorangefarbigem Kunstdeich nach der Katastrophe - drei junge Leute halten sich mit Torfverkauf über Wasser, aber sie wissen nicht, wofür. Jede Nähe heißt auch Verletzung; weder Erfahrung noch Sprache erlauben ihnen zu lernen: am Ende der Satz „Ich kann mich an nichts erinnern“.

Momentaufnahmen aus drei sehr unterschiedlichen Stücken, die sich an drei Abenden in der „Bremer Trilogie“ zu Variationen eines einzigen Themas fügen; drei Inszenierungen, die sich aneinander reiben, auch gegenseitig befragen und dabei viel riskieren. Gerlind Reinshagens neues Stück „Die Feuerblume“ wurde in Bremen uraufgeführt. Ihr Thema, das drohende Ende allen Lebens, ist so überdimensional und sperrig, daß es konventionelle Formen des Theaters überschreiten muß. Inmitten einer Fabrikhalle der Bremer Industriestraße thront die Feuerblume, in schwarze Bahnen gehüllt, die einen Kreis um sie ziehen; magischer Kreis oder kultischer Ort? Zuschauer und Schauspieler gruppieren sich gleichermaßen um dieses Zentrum, und ein weißes Kaninchen mit roten Augen bewegt sich angstlos zwischen ihnen, betritt sogar den Kreis, wird zum spielerischen und unkalkulierbaren Mittler. Nicht nur die gewohnte räumliche Ordnung ist aufgelöst; Günter Krämer und Werner Schroeter bauten in das Stück collagenhaft Arnold Schönbergs Pierrot Lunaire-Zyklus ein. Eva Gilhofer als Feuerblume mit leuchtendrotem Haar zeichnet im Sprechgesang die Odyssee des Pierrot in düstere Phantasiewelten nach. Zunächst als heilbringend begrüßt, wird sie zum vieldeutigen Symbol für den Einbruch des Fremden, nicht mehr Beherrschbaren. Immer wenn sie schweigt, löst sich der Chor der Menschen aus der Erstarrung und knüpft ein Gespinst aus Wörtern, ja Wortkaskaden, durchinstrumentiert wie eine Partitur um das Zentrum, den Wahn, alles sei machbar. In den Fragmenten und Wortfetzen spiegeln sich kollektive Ängste und Hoffnungen und verdichten sich immer dann, wenn die Menschen sich erinnern, zur großen Wehklage. „Vielleicht werden die Leute nachher gar nicht mehr wissen“, so Gerlind Reinshagen vor fünf Jahren, „was Traum und was Realität ist“, und sie hoffte, ihre Methode, Sprache zu komponieren und dem Experiment Theater auszusetzen, freier handhaben zu können, wie Grüber oder auch Wilson, auch damit die Konfusion dann größer werde.

Am Bremer Theater hat man dieses Angebot angenommen, sicher auch aus dem Wissen heraus, daß die medienüberfütterten Zuschauer andere, schwierigere Kost vertragen können. Um so erstaunlicher, daß auch eine weitere Herausforderung angenommen wurde, die nämlich, ein Stück des Außenseiters unter den zeitgenössischen Dramatikern, Peter Greiner, zu inszenieren, ein Autor, von dem es heißt, er schreibe Stücke für ein Theater, das es noch gar nicht gibt. Greiners „Torffahrer“ sind aus der Bahn Geworfene, denen Erinnerung, Hoffnung und Sprache abhanden gekommen sind. Ihr Ostfriesland wird hier zum Niemandsland; die Katastrophe spiegelt sich in ihren Deformationen und Verletzungen und wird durch ihre Wut, ihre Ziellosigkeit zum Thema. Das zu inszenieren, dafür einen Rhythmus, ein Maß zu finden, ist schwierig. Brigitte Maier ist es dennoch gelungen, die drei jungen Leute als Menschen kenntlich zu machen, Formen jenseits auch der beschädigten Sprache zu finden, die eine poetische Kraft und Gegenbewegung zum bloßen, blinden Wüten und kraftmeierischen Getöse ausmachen. Hein Wend, tätowierter Boß der drei, prügelt seine Freundin blutig; dann erstarrt er in den zeitlupenhaften Gesten eines Samurai, während sein Fahrer, der Student Jan, mit dem Second-Hand-Leben Geige spielt, ganz leise, ganz zart, bis sie wieder im wilden Tanz übereinander kugeln. Sie drohen, das „Teufelsmoor in die gutbürgerlichen Vorgärten zu bringen“ und kommen doch nur, um die „müde Mark“ zu machen. Kein Stück über die „Randständigen“ und ihre Entwicklung, diese Rechnung geht nicht auf - auch die Geige wird zerschlagen. Sicher sind die Effekte grell, die Figuren zum Teil überzeichnet, - für einen Dramatiker wie Greiner, der von sich sagt, sein „Urmeter sei die Wirklichkeit“, mangelt es mitunter zu sehr an sprachlicher Präzision, etwa wenn die junge Frau im Nina-Hagen-Outfit ständig „Null-Bock„-Phrasen drischt. Dennoch: Hier schreit einer heraus, daß im Lande keine Ruhe herrscht, selbst wenn die Theater große Bereiche dieser anderen Realität ausblenden, aus Feigheit und aus Unfähigkeit.

Mit der „Bremer Trilogie“ werden solche Vorgänge von Ausgrenzung und Angst selbst zum Thema gemacht, und das vielleicht am deutlichsten und gelungensten in Günter Krämers Inszenierung von Ernst Barlachs Auferstehungsdrama „Der arme Vetter“. Vor elf Jahren wurde dieses Stück über drei Bürgerkinder, die ihrer Herkunft entkommen wollen, von gleich drei Regisseuren wiederentdeckt. Frank-Patrick Steckel - auch einmal Theaterleiter in Bremen, auch er ging im Zorn - feierte es, weil es ein „Kapitel studentenbewegter Aufklärung fraglich werden“ ließ. Der Mensch als Gattungswesen wurde wiederentdeckt, seine Suche nach Wahrheit gegen die Reduzierung auf vulgärmarxistische bloße Klassen-Wahrheit ins Feld geführt. Krämers „Armer Vetter“ ist kaum mehr Wahrheits- und schon gar nicht Gottsucher. Benno Ifland zeigt ihn als einen der Ausflüglergruppe, kaum anders als sie, nur etwas sonderlich, chaplinesk fast, einer, der nicht genügend mittun kann oder will. Mit dieser Sicht gelingt das Kunststück, eine Gesellschaft einzufangen, die schon geringfügige Abweichungen nicht aushalten kann, und die über ein vielfältiges Sensorium der Abwehr des Andersartigen verfügt und es benutzt. Ivers‘ Selbstmord ist nicht mehr dramatische Auflösung, sondern selbst ein Teil des Spiels, und wenn sein Gegen- und Mitspieler Siebenmark Martin Reinke spielt ihn - durch Ivers kleine Verweigerungen sich selbst erkennt als einen „Affenpinscher, der in den Spiegel bellt, und ein Wolf heult zurück“, dann spürt man/frau vor allem doch die Käfige für die Wölfe und daß sie längst zu Schäferhunden wurden, abgerichtet, aber ungleich gefährlicher in ihrer Dressur. Krämer komponiert dies zu seinen großen, statischen und eindringlichen Bildern, in strengem Grau und Weiß, unter dem schwarzen Himmel, der sich nicht nur über Norddeutschland wölbt. Viel wäre auch über die Schauspieler zu sagen, die an diesem Abend alle ihre ganz großen Momente hatten; wichtiger aber ist wohl der Eindruck, daß sich hier ein Ensemble freispielte, so als ob es nichts mehr zu verlieren hat. Auf bundesdeutschen Bühnen ist es selten, daß eine Truppe, die mit dem Ende der Spielzeit geht, so entschieden und leichtfüßig zugleich Bilanz ziehen kann und ihrem Publikum zum Abschied so viel schenken kann, ohne es ihm jedoch allzu leicht zu machen.

Lore Kleinert