„Wenn das Leben den Geschmack des Todes hat“

■ Die Tagebücher Cesare Paveses

Nicht Worte. Eine Geste. Ich werde nicht mehr schreiben“, lautet die letzte Eintragung in den Tagebüchern des italienischen Dichters Cesare Pavese, niedergeschrieben wenige Tage vor seinem freiwilligen Ausscheiden aus dem Leben. In einem Turiner Hotelzimmer nahm er sich 42jährig am 27.August 1950 das Leben.

Die Tagebücher, ursprünglich nicht zur Veröffentlichung bestimmt, liegen nun in einer neuen, von Maja Pflug überarbeiteten Übersetzung vor. Der Autor hat ihnen noch zu Lebzeiten den Titel Handwerk des Lebens gegeben, er selbst ist jedoch an dem Versuch, dieses schwierige Handwerk zu erlernen, letztlich gescheitert. Zeitlebens sah sich Pavese gezwungen, das „Handwerk“, das sich für ihn immer mehr zum einem Kampf ums nackte Dasein auswuchs, „nach allen Regeln des Geistes“ zu erlernen.

Die Tagebücher sind ein schonungslos offen geführtes Selbstgespräch. Protokolliert werden die Jahre 1935 bis 1950. Pavese, von vielen als der vielleicht bedeutendste Schriftsteller der italienischen Nachkriegsliteratur erachtet, litt über den gesamten Tagebuchzeitraum an dem menschlich wie schriftstellerisch uneinlösbaren Anspruch an sich selbst. Das Erstaunliche: Er erkannte seinen unstillbaren Hang zum Absoluten sehr früh, erkannte ihn jedoch als Fehler, als Schuld. Diese Erkenntnis hat zur Folge, daß er fortan ebenso kompromißlos und radikal gegen sich, gegen seine empfundene Schuld und Fehler zu wüten beginnt: „Sünde ist nicht die eine Handlung mehr als eine andere, sondern Sünde ist eine ganze, schlecht zusammengefügte Existenz“, schreibt er am 5.Mai 1936.

Seine Notizen sind vor allem dort bedeutsam, ja aufsehenerregend, wo sie zum Diagramm eines einsam -zerrissenen Betrachters gerinnen. Selbstbezogenheit, gewagte Offenheit und eine große, beinahe selbstzerstörerisch wirkende Radikalität malen das Bild eines Menschen, der aufgehört hat, an die Erlösungskraft seiner Sprache zu glauben.

So notierte er im April des Jahres 1936: „Das einzige Glück, das von allen geistigen Haltungen - Leidenschaft, Selbstgefälligkeit, Heiterkeit etc. - die Zeit überdauert, ist die Gelassenheit. Sie wird wiederkehren.“

Zu jenem Zeitpunkt muß Pavese wieder einmal an die Möglichkeit geglaubt haben, sein Leben doch noch rechtfertigen zu können. Die Jahre zwischen 1945 und 1949 kennzeichnen für ihn ausdrücklich so etwas wie eine länger andauernde „Phase der Gelassenheit“. Nennt er doch in seinen Aufzeichnungen demgegenüber die Jahre 1936 bis 1939 seine „Jahre des Tobens“ gegen die vielgesichtige Welt des Schmerzes. Empfindlichkeit und die permanente Angst vor Schmerz sind es, die ihn immer wieder zurückschrecken lassen vor einem bewußten Kontakt mit dem Leben.

Cesare Pavese: hoffnungsvolle und zugleich verzweifelte Hauptperson in einem Spiel, das immer nur nach den Gesetzen der Verzweiflung zu funktionieren schien; Schauspieler auf der eigenen, inneren Bühne - ein Ich, das zeitlebens von einem Leben träumte jenseits des Schmerzes, befreit von den Anfechtungen des Todes und den am Gesicht festzukleben drohenden Masken einer ruhelos-zerrissenen Seele.

„Jeder von uns ist mehrere, ist viele, ist ein Unmaß an Selbsten. Aber zum Glück ist jeder nur der, der er ist, und nur dem Genie ist es gegeben, außerdem noch ein paar andere Menschen zu sein.“ Dies notierte der portugiesische Dichter Fernando Pessoa in seinem Aufzeichnungsbuch, dem Buch der Unruhe des Hilfsbuchhalters Bernardo Soares. Pessoa kannte ihn nur zu gut, den Fluch der zerrissenen Seele. Pavese, fern der sehnsuchtsbeladenen Hymnen und Oden eines portugiesischen Kafkas, litt nicht minder stark unter der Zerrissenheit seiner eigenen, italienischen Seele. Die tiefe Traurigkeit, die schon seit der Kindheit in seinen Augen lag, trug ihn immer wieder ins Zentrum der Sehnsucht nach einem anderen Leben zurück; einem glücklichen, ungetrübten Leben entgegen, hingeworfen unter den Himmel der kleinen, piemontesischen Dörfer. Geschützt durch Wälder und Hügel in einer Schwüle, die den Atem stillstehen läßt, träumte Pavese von Beginn an von einem Leben unter der im Zenit stehenden Sonne seiner Heimat: dem Dorf Stefan Belbo, dem Geburtsort des Dichters.

Sein Leben, das als eine vielleicht abwendbare Tragödie endete, begann als Idylle. San Sebastiano, San Stefan, Canelli, die Ufer des Belbo, Knabenstunden auf sonnendurchfluteten Wiesen. Pavese liebte San Sebastiano, wie er es in seinen Aufzeichnungen sagt, „bis zur Verrücktheit“.

Die Liebe zum Hügelland führte ihn schließlich dazu, alle anderen Landschaften „regelrecht zu verachten“. Eingegangen sind all die Orte und Plätze seiner Jugend in seine Bücher in zahllosen Varianten; Spielarten, die immer wieder neue Bezüge herstellen zu der eigenen, letztlich knappe vierzig Jahre währenden Geschichte. Geprägt war diese, seine schließlich selbst beendete „Geschichte“ über lange Zeiträume hin von dem Gefühl eins durch die Frauen Enttäuschten, dessen Liebe sich irgendwann in Verachtung verkehrt. Am 3.August 1937 notierte er dazu: „Eine Frau, die nicht dumm ist, findet früher oder später einen gesunden Mann und macht ihn zum Wrack. Es gelingt ihr immer.“

Selbstzweifel und Sehnsucht, Lebensliebe und Enttäuschung waren es, die ihn immer wieder in jene Randbezirke der eigenen Seele verschlugen, wo das Ich die Idee des Selbstmordes eines Tages als reale Möglichkeit zu betrachten beginnt. Bereits 13 Jahre vor seinem Freitod findet sich in den Tagebüchern folgende Notiz: „Das größte Unrecht des Selbstmörders ist nicht, daß er sich tötet, sondern daß er daran denkt und es nicht tut.“ (6.November 1937)

Cesare Pavese wollte das Leben immer mit Worten betrachten, es beobachten vor sich selbst wie in einem Spiegel: “...ich verbrachte den Abend vor dem Spiegel sitzend, um mir Gesellschaft zu leisten“, heißt es an einer Stelle seines journal intime. Ein Dichter, der im Schreiben seinen Frieden zu finden hoffte und trotz des ihm dabei zuteil gewordenen Ruhms Eines niemals erlernte: „das Handwerk des Lebens“, aus dessen leiser Ahnung er jedoch ein großes, erschütterndes Dokument zu schöpfen verstand. Ein Werk, kunstvoll und reich, auf dessen Seiten jedoch jeder Hinweis fehlt, wie er hätte Zugang finden können zu dem, was sich hinter dem geheimnisvollen Wort „Leben“ verbirgt.

Peter Henning

Cesare Pavese: Das Handwerk des Lebens, Tagebuch 1935-1950, Claasen Verlag 1988, 461 Seiten, 69 Mark