PHANTASTISCHE ZEITEN

■ „Geschichte des Zeichentrickfilms“ im Graffiti

Am lustigsten wird es, wenn jemand verhauen, erschlagen, geschlachtet, zerstückelt, geköpft oder in die Luft gejagt wird. Die Schadenfreude ist dann auf dem Höhepunkt, aber Schaden nimmt im Zeichentrickfilm eigentlich niemand. Eine Figur kann von MG-Feuer durchlöchert, kilometertiefe Abhänge hinabgestürzt, platt gewalzt oder zu einer Spirale aufgedreht sein - um schon in der nächsten Szene ihre alte Gestalt wieder anzunehmen.

Neben Georges Melies, der Züge durch Löcher von Kleidern fahren ließ, war Winsor McCay einer der ersten Zeichentrickfilmer. Mit den surrealen Abenteuern Little Nemos (1910) durchforschte McCay die unbewußte Welt der Träume, die keine Unmöglichkeit kennt: Räume verlieren ihre vertrauten Dimensionen, Ebenen werden zu Kugeln, und wo man eben noch stehen konnte, gähnt einem das Nichts entgegen. In The Mosquito (1912) fällt ein großer Moskito über einen Schläfer her und in Bug Vaudeville (1917) tanzen Insekten ein Alptraumballett.

In den Zwanzigern schuf Pat Sullivan mit Felix the Cat den ersten Star des Zeichentrickfilms, einen Kater mit Charakter: Wenn Felix angestrengt überlegt, geht er mit verschränkten Armen auf und ab. (Buster Keaton hat viel Geld bezahlt, um den Felix-Gang in seinen Filmen kopieren zu dürfen.)

Ebenfalls in den Zwanzigern schuf Max Fleischer den Clown Ko-Ko, der zum Leben erwacht und seine Abenteuer in einer kombinierten Welt aus Zeichnungen und Realfilm erlebt. In Ko-Ko's Earth Control (1928) simuliert Fleischer mit genialen Kameratricks den Weltuntergang. Die Filme seines Bruders Dave Fleischer können als Vorläufer heutiger Musik -Videos angesehen werden: In I'll be glad when you're dead, you rascal you (1932) werden Ko-Ko und Betty Boop, die beiden erfolgreichsten Figuren Fleischers, zur Jazzmusik Louis Armstrongs von blutgierigen Kopfgeldjägern verfolgt.

Betty Boop, der erste Vamp des Zeichentricks, eine erotisch-kokette junge Frau mit diamantenbesetztem Strumpfband - deren Lieder zum Besten gehören, was im frühen Tonfilm zu hören war! -, wurde Anfang der Dreißiger zum Publikumsliebling. In Dizzy Red Riding Hood (1931) ist der böse Wolf scharf auf Betty und in Betty Boop's Museum (1932) wird sie im nächtlichen Museum von einem zum Leben erwachten Fossil verfolgt. 1935 verlor Betty viel von ihrem Charme, als sie aufgrund der Zensur des Hays Office zu einer sauberen amerikanischen Hausfrau wurde.

Walt Disney machte den Zeichentrickfilm zum kommerziellen Großunternehmen. Seine Kunst bestand darin, alles, was ihm in die Hände fiel, zu disneyfizieren: Die Helden wurden niedlicher, die Tiere menschlicher und das Leben harmloser. Hatte er seine Silly Symphonies während der Dreißiger noch als Experimentierfeld für neue Stile, Erzählweisen und Techniken benutzt, voller Derbheit, Horror und unübertroffener Originalität (in Three Little Pigs, 1933, sieht man mother beim Säugen, father ist eine Wurstkette, und grandfather hängt als fetter Schinken an der Wand), so wandelten sich seine Filme immer mehr zu publikumswirksamer Nachmittagsunterhaltung, bis sie in den Sechzigern vollends sauber, heiter und albern wurden.

Erst nach dem Zweiten Weltkrieg knüpften Zeicher wie Tex Avery wieder an das Niveau der frühen Dreißiger an. Averys Filme verändern die Vorstellung, die man vom angeblich harmlosen Zeichentrickfilm, hat auf so vollständige Weise, daß er zum „Kafka des Zeichentricks“ wurde: Wer einmal einen Tex-Avery-Film gesehen hat, hat nicht nur seine filmische Unschuld verloren. In The Cat That Hated People (1948) flieht ein Kater auf den Mond, weil er genug hat von den täglichen Quälereien und Demütigungen, die ihm die Leute auf dieser Welt antun. Aber was ihm dort widerfährt, übertrifft jegliche Vorstellung: Ein Mund wird von einem Lippenstift verfolgt, ein Blatt Papier von einer wildgewordenen Schere, und eine Bleistiftanspitzmaschine macht sich am Schwanz des Katers zu schaffen. So beschließt unser Freund, lieber den kleinen Alptraum auf der Erde zu ertragen, wo die Leute lediglich auf ihm herumtrampeln oder er von Kindern durch die Luft geworfen wird.

Nichts liegt den Filmen Tex Averys ferner als die niedliche Welt braver Tierfiguren, die sich in Disneys Langfilmen tummeln. Seine Figuren waren so irrsinnig, daß sie nie zu Publikumslieblingen werden konnten: Screwball Squirrel, ein Eichhörnchen, lockt seinen Verfolger, einen Hund, in eine dunkle Höhle, das Publikum sieht nur schwarz und hört eine gewaltige Detonation. Screwy zündet ein Streichholz an: „Sure was a funny gag - too bad you couldn't see it!“ In Red Hot Riding Hood (1943), einem anderen Tex-Avery -Film, wird aus Rotkäppchen eine mondäne Nachtklubsängerin, deren Großmutter, zur Nymphomanin verwandelt, auf den Wolf scharf ist.

Wie Tex Avery blieben auch viele andere Zeichentrick -Künstler und -Handwerker unbekannt, weil sie keine identitätsstiftenden Serienhelden schufen, sondern in ihren Filmen immer wieder neue, freche Figuren einführten. Seit den Fünfzigern werden erfolgreiche Comic-Figuren wie Asterix oder Die Schlümpfe auf die Leinwand verlängert, um den Gewinn durch ein Massenpublikum zu potenzieren, seit den Sechzigern sind gezeichnete Musikfilme in Mode (von Klassik bis zu den Residents), aber immer noch tauchen phantastische Werke auf, in denen Tagträume ihre absurd-poetischen Blüten treiben.

Torsten Alisch

„Geschichte des Zeichentrickfilms“ - 75 Filme in fünf Programmen, vom 20. bis 24. Oktober im Graffiti.