Theater, das aus den Fugen gerät

■ „Die Lebensbeichte des Fran?ois Villon“ live in Kreuzberg

Gerade hatte sich der in edles Flanell gehüllte Berliner Studienrat angeschickt, seiner pelzverbrämten Gemahlin ein Glas gutgekühlten Sektes einzuschenken, als die charmante Zeremonie jäh unterbrochen wird: „Seht! Ein satter, fetter Pfaffe geil sich reckt. An ihn geschmiegt, in lustigem Liebesspiele, Sidonies glatter, weißer Leib sich streckt.“ Mit teuflischem Grinsen und ausgestrecktem Zeigefinger schmettert ein wildzerzauster Hüne den beiden die vernichtenden Verse entgegen, wobei sich im Eifer des Wortgefechts einige Tropfen des edlen Gesöffs über die echauffierten Herrschaften ergießen.

Eine solche Szene ist, wenn der in Berlin lebende Schauspieler Alfons Kujat den mittelalterlichen Dichter Fran?ois Villon wieder zum Leben erweckt, keine Seltenheit. Im Publikum sind sie alle versammelt, über die Villon vor mehr als 400 Jahren in Frankreich seine respektlosen Possen riß: Die zufriedenen Karrieristen, das ihnen nacheifernde Jungvolk, die Alten, die Gescheiterten, die Ausgestoßenen und die selbstverliebten Dandies.

Die Zeit scheint stehengeblieben zu sein. Der süßlich -schwere Geruch von Weihrauch hängt in der Luft, Kerzenlicht erhellt spärlich den Raum, an dessen Stirnseite stacheliges Stroh ausgebreitet ist. Auf einem alten Holztisch stehen Weinglas- und Flasche, eine große Schale und ein blutverschmierter Blecheimer auf der Bank davor. Schwere Eisenketten hängen von der Decke, an der Wand prangt ein Jesus in Öl. Die Zuschauer und Zuschauerinnen sitzen rauchend und trinkend an den Kneipentischen: Inszeniertes Mittelalter.

Kein Bühnengraben schützt das Publikum vor Villon alias Kujat, der brüllend, jaulend, winselnd, heulend und röchelnd über die Bänke tobt und seine in Verse gegossene Lebensgeschichte ausrotzt. Gemeinsam mit seinem Freund einem stummen Narren, der von Nils Willers pantomimisch dargestellt wird - manscht Villon in dem blutverschmierten Blecheimer Eiter, Kacke und Schlangensud zusammen: Die symbolische Mischung für die schleimigen Lügen der Fürsten und Pfaffen.

„In dieser Jauche - rührt noch Saumist rein - muß man die Zungen der Verleumder schmoren!“ schreit er und schockt das Publikum mit einer gekochten Rinderzunge, die er sich mit irren Blick ins Maul stopft.

Während Kujat stimmgewaltig durch den Saal agiert, hält sich Willers im Hintergrund: Als Schatten, als Pendant, als Spiegelbild, Gewissen und Traumfigur. Manchmal muß man den Blick gewaltsam von Kujat abwenden, um Villons Tiraden nicht zu verpassen. Denn: Diesem Villon kann man sich nicht entziehen. Die Vorstellungen, die so beschaulich-gemütlich in einer Atmosphäre beginnen, wie sich Otto Normalverbraucher schon immer das Mittelalter vorgestellt hat, geraten nach Minuten aus den Fugen.

Wer eben noch über seinen Nachbarn gelacht hat, weil der fast den überschwappenden Eimer voll Sud vor die Füße geschüttet bekam, kann schon der nächste sein, über den Villon seine Witze macht. So schwankt das Publikum zwischen Mitleid mit der gebrochenen Kreatur, Schadenfreude, Sympathie und Entsetzen.

Villon scheißt auf die feine Gesellschaft, weil er von ihr betrogen wurde. Was den Gescheiterten tröstet, ist der Tod. Nicht, weil der Tod ein besseres Leben im Jenseits verspricht, sondern weil er alle gleich macht: Die Stutzer, die Adeligen, der Pöbel, alle zerfallen zu Staub. So verwandelt sich Kujat an einer Stelle in ein weißmaskiertes Wesen in blauer Kutte, das mit flüchtigen, huschenden Bewegungen die banale, aber schmerzliche Wahrheit verkündet: „Spurlos sind sie im Wind verweht, ich hol sie allesamt!“ Und kichert. Manch einer hat an dieser Stelle schon mit Grausen den Raum verlassen, weil es für ihn nichts mehr zu kichern gab.

Auch die Liebespaare kriegen ihr Fett ab. Die Pärchen, die

-sich einen netten Theaterabend gönnend aneinandergeschmiegt das Szenario verfolgen, sind Kujat als Opfer gerade recht. „Ja, jede folgte dem Dekret, fand einst in einem nur ihr Heil/ Nahm heimlich ihn nur in ihr Bett, Kein anderer hatte daran teil/ Doch führt dies oft zu Langeweil, denn die's zu oft mit einem übt/ Wird schließlich auch auf andere geil. So kommt's, das sie bald viele liebt.“

So manchem frischverliebten Theaterfreund rutschte an dieser Stelle schon das Herz in die Hose. Und der Rest des Poems „Verliebter Narr, da blitzt Du ab! Fort fliegt die Dame Deiner Wahl!“ sorgte bei den Jünglingen mehr als einmal für entgleisende Gesichtszüge. Und während die Herren der Schöpfung, von Psychoqual und böser Ahnung gepeinigt, ein schmerzhaftes Grinsen aufsetzen, lachen die Damen an dieser Stelle oft aus vollem Halse los.

Aber Villon kann natürlich auch anders. Wenn er sich eine ausgeguckt hat im Publikum, eine Schöne, dann kniet er nieder, blickt ihr tief in die Augen und schmachtet: „Ich bin so wild nach Deinem roten Erdbeermund!“ Der intensive Flirt brachte schon einige männliche Begleitpersonen so zu Eifersucht und Raserei, daß sie mit einem lauten „Nu is aber Schluß!“ ins Spiel eingriffen. Denn das ist ja schließlich kein Theater mehr. Eben.

„Die Lebensbeichte des Fran?ois Villon“ wird von Alfons Kujat und Nils Willers (Theater Vanilla Gorgon) zur Zeit von Donnerstag bis Sonntag um 20.30 Uhr im Kuckucksei gespielt.

Ab 3. November ziehen sie in den „Schauplatz“, Dieffenbachstraße um.

Kathrin Elsner/CC Malzahn