Demokratisierung als Krisenausweg

„Aufbruch-88„-Gruppe will der Krise der Grünen mit einer Urabstimmung über Grundsatzpapiere und Strategievorschläge der verschiedenen Parteiflügel beikommen / Mehr als ein Plebiszit des guten Willens?  ■  Von Max Thomas Mehr

Eine „verbindliche Debatte über die Zukunft der Grünen“ will Antje Vollmer und mit ihr die „Aufbruch 88“ Gruppe in der Partei initiieren. In diesen Tagen erhielten deswegen alle Kreisverbände der Ökopartei Post. Urabstimmung ist die neue Zauberformel, Basisdemokratie gegen die Politik des Apparates, mit deren Hilfe das selbstzerstörerisch gewordene innerparteiliche Politikmuster aus Realos und Fundis aufgelöst, die Krise der Partei überwunden werden soll. In der Vergangenheit habe, so die Aufbruch-Leute, „die Dominanz der Flügel und die Art ihrer Kämpfe letztlich alle inhaltlichen Fragen auf innerparteiliche Machtfragen reduziert“.

Bevor es jedoch dazu kommt, müssen erst einmal ein Drittel (das heißt 120) aller Kreisverbände, so schreibt es die Satzung vor, einer solchen Abstimmung zustimmen. Spätestens bei ihrer Bundesversammlung im Dezember will die Aufbruch -Gruppe die notwendigen Voten für das Projekt gesammelt haben. Im Mai 1989, rechtzeitig vorm nächsten Bundestagswahlkampf und vor wichtigen Landtagswahlen 1990, soll die eigentliche Urabstimmung stattfinden. Geht es nach den Initiatoren, dann werden Realos, Fundis, Ökosozialisten bis dahin politische „Manifeste“ zu verfassen haben - die Aufbruch-Gruppe hat bereits eines vorgelegt, von den Realos gibt es einen Entwurf - über die die Parteibasis dann alternativ abstimmen soll.

Obwohl der Jammer über den derzeit desolaten Zustand der Partei in allen Lagern groß ist, gibt es massive Kritik an dem Projekt und - wenn überhaupt - nur verhaltene Zustimmung. Ökosozialisten und Fundis halten von einem Grundsatzvotum nicht viel und verweisen auf die real -existierenden Parteiprogramme. So manche Realos sind sich mit Ökosozialisten darin einig, daß man über solche Grundsatzpapiere, die ja umfassende gesellschaftliche Analysen und daraus resultierende Parteistrategien beinhalten, „nicht mit ja oder nein abstimmen kann“ (Bundesvorstandssprecherin Regina Michalik); „sie nicht abstimmungsfähig sind“ (Dietrich Wetzel). Trotzdem sind die meisten Realos dem Versuch einer Klärung der gemeinsamen Geschäftsgrundlage nicht abgeneigt, wie es der Bundestagsabgeordnete Wetzel gegenüber der taz formulierte. Udo Knapp wurde noch deutlicher: Um der Auflösung der Partei von unten entgegen zu wirken, sei es erforderlich, daß sich die Grünen überlegen, ob sie die Erwartung vieler Menschen nach einer radikalökologischen Wende im Kapitalismus mittragen oder weiter an der Systemfrage herumbasteln wollen. Das Dilemma an den Aufbruch-Leuten sei jedoch, daß sie an dieser Frage selbst hin und her wackeln. Der Vordenker der Ökolibertären, Thomas Schmid, hält den Versuch der Aufbruch-Gruppe lediglich für ein „Plebiszit des guten Willens“. Auf eine programmatische Debatte freut sich Schmid, von der Verquickung von Diskussion und Abstimmung hält er zum derzeitigen Zeitpunkt allerdings nichts.

Die Initiatoren wollen mit ihrem Abstimmungsprojekt, so heißt es in ihrem Brief an die Kreisverbände, eine von der gesamten Partei legitimierte „richtungsweisende Vorentscheidung auch für die Bundestagswahl“. In ihrem Manifest genannten Leitantrag wird zwar Lafontaine mit seinen Vorschlägen zur Umverteilung der Arbeit vorsichtig in Schutz genommen gegen Grüne, die den Versuch unternehmen, „sich als bessere Gewerkschaftspartei zu profilieren“, aber als Aufbruch-Konzept reicht das nicht aus. Allzusehr wird auf das Innenleben der Partei geschielt, viel zu wenig auf einen entwickelten gesellschaftlichen Reformdialog tatsächlich gesetzt.

Das Beschwören von Basisdemokratie wird den Grünen aus ihrer politisch konzeptionellen Ratlosigkeit nicht heraushelfen, und trotzdem ist die Aufbruch-Initiative der einzige Versuch, die Krise der Partei überhaupt zum Thema zu machen. Das ganze Projekt der Mittel-Gruppe um Antje Vollmer wird von der richtigen Erkenntnis und dem Impuls geleitet, daß bisherige Programmdiskussionen zu Festschreibungen führten, die inzwischen jegliche politische Dynamik einbüßten; grüne Programmatik völlig untauglich für tagespolitische Einmischungen geworden ist. Es ist ein Befreiungsversuch aus der Wagenburg-Mentalität der innerparteilichen Strömungen. So bleiben viele Einwände, doch bislang keine Alternativen zur Urabstimmung. Zwar will eine andere sich selbst als „Unabhängige“ bezeichnende neue Strömung in der Partei die Krise der Grünen mit einer Arbeitstagung unter dem Titel Zeit zum Nachdenken am 5. und 6. November in West-Berlin angehen und über ökologische und soziale Antworten auf die Modernisierung der kapitalistischen Industriegesellschaft diskutieren und über die Auswirkungen von sowjetischer Perestroika auf die Bundesrepublik, doch wie daraus eine Krisenaufarbeitung der Partei sich entwickeln soll, bleibt rätselhaft.

Obwohl eine solche Tagung auch nicht unbedingt dem Urabstimmungs-Projekt widerspricht, gelten die „Unabhängigen“ um die Hamburger GALlier und einstigen Ökosozialisten Jürgen Reents und Michael Stamm, Kurt Edler und die Berliner ALer Dirk Schneider und Birgit Arkenstette, als schärfste Kritiker des Abstimmungsprojekts.