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DIE RATTEN PROBEN DEN AUFRECHTEN GANG

■ Tagung „Tourismus und Umwelt in Europa“

Ist der Wald noch da? Der Wald war noch so ziemlich daFranz Kafka

Sieht hier etwa jemand tote Robben?“, fragte einer aus der Besuchergruppe in einem Anflug ökologischen Galgenhumors. Der Tatort war aber nicht irgendein Strand an der Nordsee, sondern der Brixener Hausberg „Plose“ in Südtirol. Lokaltermin auf dem Gipfel. Mit der Seilbahn wurden die Teilnehmer der internationalen Konferenz Tourismus und Umwelt in Europa auf die Plose transportiert, um sich von den vielen Referaten aktiv zu erholen. Hier konnten sie vor Ort die fragile Gratwanderung zwischen Fremdenverkehrsexpansion und Naturzerstörung in Augenschein nehmen. Karl Partsch, engagierter Alpenschützer, und der Seilbahndirektor diskutierten hitzig über Wohl und Wehe der touristischen Erschließung der Plose: personifizierter Ausdruck des Spannungsverhältnisses von Ökologie und Ökonomie des Tourismus.

Um das Wohl der Skitouristen zu mehren wurde die neue leistungsfähige Umlauf-Seilbahn - mit einer Kapazität von 2.000 Gästen pro Stunde - auf den Berg gesetzt. Folglich mußte die Zufahrtsstraße verbreitert, der Parkplatz an der Talstation vergrößert werden. Auch hier zeigt der Tourismus seine „Eigengesetzlichkeit“: (angebliche) Engpässe werden konstatiert, Sachzwänge konstruiert, Neuerschließungen propagiert. Die spiralförmige Aufwärtsbewegung des touristischen „immer mehr“ schreitet fort: mehr Seilbahnen, mehr Pisten, mehr Betten, mehr Straßen, mehr Parkplätze... Karl Partsch gab lebendigen Anschauungsunterricht für das Vegetationssterben auf der Plose. Schneekanonen und Pistenfahrzeuge sorgen dafür, daß die Skisaison künstlich verlängert wird. Die messerscharfen Stahlkanten der Skier rasieren jeden Grashalm ab. Die verkürzte Vegetationsperiode im Sommer reicht der Natur nicht zum Aufbäumen. Der einst florierende Bergwald mutiert zur Hochgebirgssavanne. Die „natürliche“ Konsequenz: Der offene Boden wird anfällig und ist der Erosion durch Regen und Wind ausgesetzt.

Doch wenn der Boden erodiert, dann wird früher oder später auch der Fremdenverkehr erodieren. „Wir sind dabei, unsere Lebensräume zu Sterbensräumen zu machen“, warnte Karl Partsch eindringlich. Viele Täler würden nicht mehr besiedelbar sein, weil sie von Lawinen und Muren heimgesucht würden. Die Apokalypse in den Alpen steht für Partsch unmittelbar bevor: „Wer glaubt, es ist fünf vor zwölf, dessen Uhr geht nach. Es ist Punkt zwölf, und auf der Stelle muß gehandelt werden.“ Die ökologische Zeitbombe tickt unaufhörlich weiter.

Während der Tagung referierte Professor Krippendorf, daß es in Fragen der Landschaftszerstörung und der Reaktionsmöglichkeiten „längst keine ernstzunehmenden Forschungsdefizite mehr“ gäbe, „sondern reine Umsetzungsdefizite“. Die entscheidende Frage ist fundamentalistisch: „Wie wird Ökologie politisch relevant?“ Mit den praktischen Entscheidungsträgern wie Unternehmensmanagern, Behördenvertretern und Politikern müsse darüber gesprochen werden, „warum sie dem Um-Fühlen kein Um-Denken und Um-Handeln folgen lassen“. Noch beherrscht der „homo oeconomicus“ die Szenerie; die Sachwalter des „harten Tourismus“ sind nur am materiellen Nutzen interessiert. Dagegen setzt Krippendorf auf den sanften, das heißt umwelt- und sozialverträglichen Tourismus. Um eine „Tourismusentwicklung im Gleichgewicht“ zu erreichen, müsse die wirtschaftliche Wertschöpfung als gleichrangiges Ziel neben die intakte Landschaft, die intakte Soziokultur der Einheimischen und die optimale Erholung der Gäste treten. Es bedürfe, so Krippendorf, einer Ordnungspolitik mit Lenkungsmaßnahmen, „harte Korrekturstrategien zugunsten einer sanften, umweltverantwortlichen Politik“. Diese Kritik, die eine radikale Umkehr von der praktischen (Fremdenverkehrs -)Politik fordert, ist nicht neu. In Gang gesetzt hat die Tourismuskritik auf der praktisch-politischen Ebene jedoch so gut wie nichts. Deshalb will Jost Krippendorf auch nicht länger der Alibiredner und Bergprediger sein: „Man lädt mich ein, um Vorträge zu halten, und applaudiert. Eine sachliche Kritik an meinen Thesen kommt kaum auf. Man geht zur Tagesordnung über, wendet nicht an, hat sich aber gut unterhalten.“

Heinz Hahn vom Starnberger Studienkreis für Tourismus kritisierte die Krippendorfsche Vogel-Strauß-Politik. Nicht Bergpredigten und eine weitere Akkumulation von Wissen seien nötig, sondern die Formulierung eines „konkreten Wissenschafts- und Aktionsprogramms“. Zum Beispiel wäre es sinnvoll gewesen, stellte Hahn fest, für den Ort der Tagung, die Region Südtirol, eine Liste mit allen ökologischen Sünden und Versäumnissen zusammenzustellen, um dann den Regionalverantwortlichen (Politiker, Fremdenverkehrsdirektoren, Öffentlichkeit) einen konkreten Forderungskatalog zu unterbreiten.

Doch gerade die Tourismuspraktiker glänzten auch auf der Brixener Tagung wieder einmal - bis auf wenige Ausnahmen durch Abwesenheit. Sie hören offenbar nicht auf die „sanfte Tour“, auf den „Tourismus mit Einsicht“, sondern reagieren nur auf ökonomischen Druck. Sie horchen erst auf, wenn die Natur zurückschlägt. Erst die „Revanche der sozialen Kosten“ (Andre Gorz), Besucher- und Umsatzrückgänge durch das Robbensterben an der Nordsee, Überschwemmungskatastrophen im Veltlin und die Algenpest an der Adria läßt sie hochschrecken.

Anhand zweier Modellprojekte wurden die Chancen der Realisierung eines sozial- und umweltverträglichen Tourismus ausgelotet. Die E.-F.-Schumacher-Gesellschaft beteiligt sich an der Schaffung eines Europa-Nationalparks im Nordosten Griechenlands, während die Naturfreunde Internationale ein sanftes Projekt im Saarland für Familienurlaub fördert. Beiden Modellen, die in wirtschaftlichen Problemregionen liegen, ist gemeinsam, daß sie bescheidene Impulse für eine verbesserte Regionalentwicklung geben und die Erwerbs- und Lebensmöglichkeiten der Bevölkerung stärken wollen. Unbestritten ist jedoch, daß angesichts der Übermacht des kommerziell betriebenen Tourismus diese Modelle - zumindest vorläufig - nur eine Nischenfunktion mit experimenteller Note haben können.

Dieter Kramer von den Naturfreunden betonte, daß es sich bei diesen Projekten keineswegs um sektiererische oder Verzichtsmodelle handle, sondern um „attraktive Modelle, die mit höheren Erlebnischancen als beim kommerziellen Tourismus verbunden sind“. Darüber hinaus gebe es ermutigende Anzeichen für einen Wertewandel - auch bei den Tourismuspraktikern -, der untergründig zu wirken beginne und der auf neue Urlaubsformen und eine neue Qualität des Urlaubs hinauslaufen könne.

Allerdings waren die Kostproben, die die anwesenden Vertreter der Fremdenverkehrsbranche in Brixen von sich gaben, nicht unbedingt dazu angetan, an die innovative Kraft der Veränderung zu glauben. So behauptete etwa ein Marketingberater der Adria allen Ernstes, daß das Gerede über den sanften Tourismus ein Kolumbus-Ei sei, dieser vielmehr in Rimini schon seit gut 20 Jahren verwirklicht sei. Auch im Umweltbereich wäre bis auf die Algen alles in Butter. Diese Feststellung des real existierenden sanften Tourismus am italienischen „Teutonengrill“ war einem Teilnehmer etwas zu gewagt. Ein Tourismuszentrum, das sich durch eine 40 Kilometer lange lückenlose Bebauung „auszeichne“, sei für ihn schlicht eine „Horrorvorstellung“.

Der Landesverkehrsdirektor des Salzburger Landes, Dr.Oppitz, wandte sich entschieden dagegen, den Fremdenverkehr immer noch zum Buhmann des Naturschutzes zu machen: „Ein Tschernobyl zerstört mehr als tausend Ferienzentren in Europa.“ Der Fremdenverkehr sei vielfach der einzige Garant dafür, daß in strukturschwachen Gebieten Landflucht und Entsiedelung gestoppt würden. Die Infrastruktur-Investitionen würden nicht nur den Gästen, sondern auch den Einheimischen zugute kommen. So hätten die Bäuerinnen von Vilsmoos nie Schwimmkurse besuchen und das Schwimmen erlernen können, behauptete Dr.Oppitz, wenn dort nicht das Hallenbad für den Fremdenverkehr gebaut worden wäre.

Für Dr.Wenter, Landesverkehrsdirektor von Südtirol, stellt sich die Option eines „sanften Tourismus“ überhaupt nicht. Die normative Kraft des Faktischen in Form des „harten Tourismus“ ist nicht wegzupredigen. Die touristische Entwicklung in den Alpen ist für ihn gelaufen und irreversibel. „Die vielen Betten können mit sanften Touristen nicht gefüllt werden.“ Dr.Wenters Überlegung, „welche Folgen es für die Alpen hätte, wenn zum Beispiel nicht mehr Ski gefahren werde“, läßt zwei Sichtweisen zu: mit der ökologischen Lesebrille weitsichtig, mit der ökonomischen kurzsichtig.

Das Positive an der Brixener Konferenz, die von der Europäischen Bildungs- und Aktionsgemeinschaft zusammen mit dem Studienkreis für Tourismus durchgeführt wurde, war der Erfahrungsaustausch der 90 Teilnehmer aus dreizehn Ländern. Aber das Klassenziel, konkrete Anforderungen an eine gemeinsame europäische Tourismusumweltpolitik zu erarbeiten, wurde nicht erreicht. Die Entwicklung von kleinen, aber feinen sanften Tourismusmodellen ist sicher sehr ehrenwert; wichtiger aber wäre die Formulierung eines handfesten Wissenschafts- und Aktionsprogramms, das die vielen kritischen Anstöße und Appelle bündelt und auf die europäische politische Ebene bringt. Einige Arbeitsergebnisse der Brixener Konferenz sollen in einem ersten Vorstoß der EG-Kommission unterbreitet werden.

Die Umwelt hängt am Tropf, der Ökozid droht. Karl Partsch sieht „die Menschen auf der roten Liste der gefährdeten Arten“, wenn sie nicht endlich die Warnzeichen der Natur ernstnähmen und vorbeugende Umweltpolitik betrieben. Sonst sieht das Zukunftsszenario makaber aus: „Die Ratten üben schon heute den aufrechten Gang auf der Mülldeponie. In hundert Jahren gehen sie dann schwanzlos und mit dem Rucksack durch die Alpen.“

Günter Ermlich

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