Kurz vor Schluß ein Kurzschluß

Lok Leipzig - SSC Neapel 1:1 / Maradona trotz Zauberfußball die Show gestohlen / Kein Herz für Generäle  ■  Aus Leipzig Ulli Kulke

Zentralstadion (taz) - Armeegeneräle, die die Heimat vor dem Klassenfeind schützen, sind böse; perfekte Fußball -Filigrantechniker dagegen, auch wenn sie für den Gegner spielen, absolute Publikumslieblinge. Solchermaßen gerecht verteilten die 92.100 Zuschauer im ausverkauften Leipziger „Sportforum“ (was für ein belangloser Ersatz für das gute alte „Zentralstadion“) vor dem Europapokalspiel Lokomotive Leipzig gegen SSC Neapel bei der Begrüßung der uniformierte Zuschauerprominenz und des Fußballwunders Diego Maradona Beifall und Pfiffe.

Aber schon in der ersten Minute kippte die Zuschauergunst für Diego - wegen Verdachtes der Zeitschinderei nach einem Foul: ein einziger gellender Pfiff aus zigtausend gerollten Zungen. Aber wenigstens immer noch heiße Stimmung. Stimmung vor allem aber auch auch im abgeschotteten Presseraum. Die 35 Mann hoch angerückte italienische Medienmannschaft wirbelte 70 Arme nach jedem erkennbaren Spielansatz. Besonders hitzig gestikuliert wurde allerdings stets dann, wenn ausgerechnet bei heißen Strafraumszenen die „Mexikowelle“ gerade vor dem Presseraum hochschwappte, und die langen Kerls aus Sachsen den Italienern dahinter den sachkundigen Durchblick nahmen. Da setzte dann ein vielfäustiges Getrommel auf die Fensterscheiben ein, das keinem Radiohörer in Italien verborgen geblieben sein dürfte.

Mehr vom Spiel hatten in der ersten Halbzeit zwar die Leipziger und vor allem Mittelstürmer Halata, die neue Hoffnung der Messestädter. Die Zuschauer hatten freilich mehr von den vereinzelten Chancen der Italiener, bei denen selten zwar - brilliante Kombinationen und Einzelleistungen glänzten.

Die drei Male, in denen Maradona vorführte, wie einem Fußballgott im Sprint der Ball am linken und am rechten Fuß kleben kann, wie er ihn mit Außenrist, Hacken, Fußspitze und Brust jonglierte, all dies lohnte bereits die Anreise aus dem Fußball-Entwicklungsland West-Berlin. In der Regel war er jedoch in der klugen Lok-Abwehr gut aufgehoben, hoffährtigerweise nicht einmal eng gedeckt. Die Show gestohlen wurde dem Argentinier jedoch am Mittwoch abend vom brasilianischen Nationalspieler Careca, der schier an allen vorderen Positionen gleichzeitig auftauchte, den Ball an sich sog und wieder verteilte: das veritable Herzstück des neapolitanischen Angriffskreislaufes - wenn er stattfand.

Mit viel Mann, Mühe und belanglosen Kombinationen dagegen versuchten die Leipziger in der ersten Halbzeit ihr leichtes Übergewicht zu halten. „Wir haben mehr kollektive Anstrengungen und planvollen Aufbau betrieben als die Neapolitaner“, während die Italiener durch „individuelle Leistungen aus eineinhalb Chancen ein Tor machten“ - lautete die offizielle Interpretation des Geschehens von Lok -Teamchef Ulli Thomale.

Ob planvoll oder nicht, in der zweiten Halbzeit schafften es die blau-gelben Sachsen, Publikum und Gegner einzuschläfern. Einzig die italienische Journalistenschar blieb wach. Der Himmel mag wissen, was sie auf die unzähligen Seiten tippten, die sie Zug um Zug an ihre Heimatredaktionen oder Radiostationen durchgaben. Jeder noch so langweilige Spielzug wurde statistisch erfaßt und professionell interpretiert. Neapels Abwehr nahm mangels Geschehens jedenfalls ihre Pflicht nicht mehr so recht ernst, und prompt köpfte jener junge Zimmerling, den die Neapolitaner zuvor gar nicht zur Kenntnis nehmen mußten, in der 70. Minute ein.

Ausgleichende Gerechtigkeit, daß wenig später der ansonsten recht sicheren Lok-Abwehr um Libero Baum, die ausschließlich aus bewährten Elektromonteuren zusammengestellt ist, alle Sicherungen durchbrannten. Die Folge: Kurz vor Schluß Kurzschluß und das 1:1 durch Francini, nach einer zauberhaften Maradona-Careca-Aktion. Ein Trauerspiel, wie durch eine solch langweilige zweite Halbzeit die Bombenstimmung in jenem Bombenstadion auslaufen konnte. Thomales offizielle Lesart zu diesem Gesamteindruck: „Ein dramatisches Spiel für die Zuschauer“.

Irgendetwas Dramatisches mußte offenbar wirklich daran gewesen sein, denn Neapels Trainer wurde irgendwo in den Katakomben des Sportforums so lange vom italienischen Rundfunk- und Pressewesen exklusiv mit Beschlag belegt, daß Ottavio Bianchi die DDR-Fachpresse mal eben eine dreiviertel Stunde auf die angesetzte Pressekonferenz warten ließ. Kein guter Dienst auch an den Chronisten, der um 24.00 Uhr noch nach West-Berlin aufbrechen mußte, um in der Nacht seiner Berichterstatterpflicht nachzukommen, Herr Bianchi!

LEIPZIG: Müller - Baum - Kreer, Lindner, Kracht - Bredow, Scholz, Liebers, Marschall - Halata, Zimmerling

NEAPEL: Giuliani - Renica - Ferrara, Francini - Alemao, de Napoli, Crippa, Corradino, Fusi - Careca, Maradona