Wie ein getanztes Menuett

Kunstrad-Weltmeisterschaft in Ludwigshafen: Freihändig auf ein paar Dutzend Speichen.  ■  Von Didi Willier

Bei Kindern, dann, wenn sie ihren ersten Drahtesel einigermaßen beherrschen, gibt es diese Ambivalenz noch; der eine fällt auf mit Geschwindigkeit, die andere dreht freihändig ihre Kurven. Was davon zum Radsport wird, kennen wir. Da quälen sich ein paar Hundertschaften gedopter, schwitzender, leidender Radrennfahrer rund um Frankreich oder durchmessen Italien. Da hausen andere in winzigen Kojen inmitten lärmender Sportpäläste und drehen - am ganzen Körper des Luftwiderstands wegen rasiert - stundenlang auf eintöniger Holzpiste ihre Runden. Und die Zuschauer sind oft nicht einmal wegen ihnen, sondern wegen Bier, Würstchen und Damenboxen gekommen. Olympisch ist diese Art Radfahren dennoch geworden: Geschwindigkeit um jeden Preis. Die andere, gewissermaßen die Hohe Schule des Radfahrens, ist darüber fast in Vergessenheit geraten.

Auftakt am Samstagabend! Eine Showfahrt der Hallenradsportgruppe Worms ist angesagt. Ein kurzer Tritt ins Pedal, dann balancieren sie auf dem Hinterrad, halten sich an den Händen, drehn sich im Ringelreihn, bäumen sich auf oder trotten hintereinander. Ein Schauspiel zwischen getanztem Menuett und der Parade von Zirkuspferden. Applaus von Tausenden, trotz einiger Patzer. 30 Millionen, die Hälfte der Bevölkerung unseres Landes, sind Radfahrer, da kennt man die Widerborstigkeiten eines Drahtesels, da leidet man aus eigener Kenntnis, schon wenn einer freihändig daherkommt. Dann wird es still in der Ebert-Halle; der Parcour, ein Rechteck 11 auf 14 Meter, ist hell ausgestrahlt, Petra Brinkova, eine 15jährige Tschechoslowakin, schiebt ihr glitzerndes Fahrad in die Manege. Steif, fast wie bockige Esel sehen die Fahrräder aus, die Übersetzung ist direkt, der Lenker wie bei einem Rennrad, nur nach oben gebogen, auf dem breiten Sattel wird nur selten gesessen. Petra Brinkova ist angefahren, radelt jetzt, mit einem Bein tretend, das andere und einen Arm elegant abgespreizt, auf dem Hinterrad. „Das ist ein ganz großes Talent“, raunt einer, da sitzt Fräulein Brinkova, immer noch auf dem Hinterrad fahrend, auch schon auf dem Lenker, mit einer Hand hält sie sich noch am Pneu ihres Vorderrads.

Die Fahrt geht weiter, eine Bremse gibt es an diesen Rädern nicht, Petra Brinkova hat es sich eben, mit einem Bein auf dem Lenker, dem anderen auf dem Sattel, bequem gemacht - der chromblitzende Esel wird voltigiert. Dann mit beiden Beinen auf der Lenkstange und eine Acht gefahren, ein Kopfstand, ein Schulterstand, alles Übungen wie an festem Gerät, eine Krätsche auf dem Sattel oder auf einem Rad rückwärts.

Aus 250 verschiedenen Übungen stellt die Kunstradfahrerin ihre Kür zusammen. Für jede Übung gibt es unterschiedlich viele Punkte, ein schlichter Damenreitsitz etwa 0,2, ein Damensattelstand 5,0, Patzer werden abgezogen. Da applaudiert mein Nachbar, nach ein paar Drehungen auf dem Vorderrad und einer Pirouette auf dem Hinterrad ist die sechsminütige Kür der jungen Tschechoslowakin zuende: 311 Punkte, erster Platz.

Doch die Favoritinnen kommen noch. Die Eidgenossin Marianne Martens etwa, die Weltmeisterin des vergangenen Jahres. Oder Heike Marklein, BRD, die Zweite. Auch Jana Horackova, die tschechoslowakische Meisterin, macht sich noch Hoffnungen. Iris Kurz aus Stuttgart, sie, sagt mein Nachbar, sei die einzige Frau bisher, die den Handstand auf der Lenkstange eines fahrenden Rades beherrsche.

Die Weltmeisterschaften mit dem Kunstrad drohten langweilig zu werden. 140 Medaillen hatte die deutsche Equipe in den vergangenen Jahren gesammelt. Auch in Ludwigshafen hatte das Herrendoppel aus Sooden und das Frauenduett aus dem oberschwäbischen Bad Schussenried die Goldmedaillen schon am Vormittag abgesahnt.

Eine Lautsprecherstimme bittet um Ruhe, unter den letzten drei Kunstraddompteusen ist die künftige Weltmeisterin. Jubeln würde ein gewisser Herr Drais, wenn er sähe, was man mit Nachfolgemodellen seines ehemals hölzernen Laufrads heute so macht. Fast nahtlos ist Iris Kurz eben der Übergang von einer Waage auf dem Sattel der Sitz auf dem Lenker gelungen. Ein Zittern beim Stehen auf Lenker und Sattel läßt die Zuschauer aufstöhnen, man spürt, ein Publikumsliebling ist auf dem Parcour. Dann der erste Handstand, Piroutten, Abgang und stürmischer Applaus. Trotz gleicher Punktzahl wird Iris Kurz nur Dritte, souverän holt sich die Weltmeisterin des vergangenen Jahres auch diesmal den Titel.

Bilanz: Drei Gold, drei Silber und zwei Bronzemedaillen für die Kunstradler der Republik, und das in nur fünf Disziplinen.

Und weil Oggersheim nah ist und dort nicht nur der Kanzler herkommt, sondern auch noch ein 90jähriger Kunstradlerclub, wird der Sieg in der Festhalle gefeiert. Da ist ein Weinparadies und eine Bierschwemme aufgebaut, da mischt ein Plattenmixer Heidi...Heidi... mit Schnee, Schnee, Schneewalzer und wild ist der Westen, schwer ist der Beruf.

Die Oggersheimer Jugend sitzt an der Bar, das Deutschland, Deutschlandgeschrei vom Abend hat noch nicht gereicht, hier trägt man sogar Pullover in schwarz-rot-gold, und auf den Straßen des Einfamiliendorfs riecht es nach Hausbrand und Toiletten. Da verstehe einer, weshalb das Kunstradfahren nicht längst, wie Eiskunstlauf und Synchronschwimmen auch, olympisch ist.