Ein zeichnender Schriftsteller

■ Am Rande: Ein Gespräch mit Günter Grass

taz: Herr Grass, die „Blechtrommel“ haben Sie in Paris geschrieben, um Abstand von der Bundesrepublik zu gewinnen, nun waren Sie in Indien. Aus dem gleichen Grund?

Günter Grass: Ich bin vor fünfzehn Jahren das erste Mal in Indien gewesen und habe dort zum ersten Mal Calcutta gesehen. Es war ein Schock, zu sehen, wie dort gelebt, wie dort überlebt wird. Diese Faszination und Bestürzung hat nicht aufgehört, und ich hatte immer den Wunsch, eines Tages noch einmal nach Calcutta zu gehen, dort länger zu bleiben, dort zu leben und genauer hinzusehen. Und das habe ich vor zwei Jahren gemacht, mit dem Ergebnis eines Buches, „Zunge zeigen“, Prosa, Zeichnungen und ein längeres Calcutta -Gedicht. Daß damit natürlich auch ein Distanz-Nehmen zu Europa, zur Bundesrepublik verbunden ist, will ich nicht leugnen. Als ich die „Blechtrommel“ schrieb, habe ich auch Distanz eingenommen, um von dort aus zurückzublicken. Es ist fürs Schreiben oft sehr hilfreich und notwendig.

Hier war es noch mehr ein Distanznehmen zu kleinkariert gewordenen Verhältnissen, zu einer Verwöhntheit westeuropäischer Art, sich selbst und seine Probleme so ernst zu nehmen, daß gar nichts mehr darin Platz hat. Und wer in die Länder der 3. Welt fährt, und wer einigermaßen sensibel ist, wird auch erfahren, wie rasch sich seine eigenen Probleme, seine westeuropäischen Probleme relativieren angesichts der zunehmenden Verelendung.

Sie haben auf der Pressekonferenz gesagt, daß sie mithilfe des Schreibens und Zeichnens das Unbenennbare benennbar machen wollten. Sie sind ein Schriftsteller, der versucht hat, politischen Einfluß zu nehmen; beabsichtigten Sie mit diesem Buch, ihre Erfahrungen, die Sie in Indien gemacht haben, dem hiesigen Publikum mitzuteilen?

Grass: Natürlich, das ist eine der verbliebenen Möglichkeiten, mithilfe des Buches, mithilfe der Zeichnungen Informationen zu geben, nicht im Sinne eines Journalisten, nicht im Sinne eines Statistikers, sondern im Sinne eines Schriftstellers, der auch zeichnet, oder eines Zeichners, der auch schreibt. Eine Wirklichkeit wird aufgenommen, benannt, aufgezeichnet, und dadurch auch annehmbar für jemanden, der Lust hat, oder sich veführt sieht, in dieses Buch hineinzuschauen, oder sich die Bilder anzusehen. „Zunge zeigen“ geht von der Realität aus, benutzt die klassische Form des Tagebuchs und arbeitet diese Form weiter. Gespräch: Regina Keiche