Die Versicherten zur Beute gemacht

■ Ambulante Psychotherapie kann ab 1. Januar 89 möglicherweise selbst von psycho-freundlichen Krankenkassen nicht mehr finanziert werden / Ablehnungen schon heute üblich / Stehen in Bremen bald 3.000 Therapie-PatientInnen auf der Straße?

Johanne W. ist in eine tiefe Depression geraten. Ein Job mit vielen Überstunden, eine kleine „Nachzüglerin“ neben den erwachsenen Kindern und ein Mann, der sich zu Hause für nichts verantwortlich fühlt, haben sie zur Verzweiflung getrieben. Ihr Hausarzt Dr. Peter Müller befand, daß eine psychologische Behandlung „unbedingt erforderlich“ sei. Als Therapeuten schlug er den Diplompsychologen Jürgen Kittel vor, der ihr vor Jahren bereits geholfen hatte. Vor solch einfachen Lösungen türmen sich im Lande Bremen allerdings ganz besonders hohe Hürden. In der Bundesrepublik werden nur schulmedizinisch ausgebildete Menschen mit entsprechender Bescheinigung (Approbation) von den Krankenkassen honoriert, wenn sie die Leiden ihrer PatientInnen behandeln. Wenn die PatientInnen mit psychischen Erkrankungen Glück haben, versucht sich nicht der Hausarzt selber, sondern überweist an eine der wenigen ÄrztInnen mit analytischer oder verhaltenstherapeutischer Zusatzqualifikation. Da die hoffnungslos überlaufen sind, können sie per „Delegationsverfahren“ an „Heilhilfspersonen“ überweisen.

So heißen im Krankenverwaltungsdeutsch PsychologInnen ohne schulmedizinische Ausbildung. Infrage kommen dafür allerdings nur analytisch und ver

haltenstherapeutisch orientierte PsychologInnen. VertreterInnen anderer Richtungen, und seien sie noch so qualifiziert, werden von den Krankenkassen nicht anerkannt. Außerdem stellt die Kassenärzliche Vereinigung schwer zu erfüllende Ansprüche an die psychologischen „Heilhilfspersonen“. Eine ganze Reihe PsychologInnen sind außerdem nicht bereit, sich zur „Hilfsperson“ machen zu lassen.

Nach diesem System psychologischer Versorgung waren Engpässe an der Tagesordnung. Weil auch akut und schwer psychisch Erkrankte monatelang unbehandelt blieben, hat die Technikerkrankenkasse in einem „Notenaustausch“ mit dem Bund deutscher Psychologen vereinbart, daß sie die Kosten von Psychotherapien übernimmt. In Bremen haben einige Betriebskrankenkassen nachgezogen. Außerhalb Bremens haben 1987 rund 1000 Zweigstellen verschiedener Krankenkassen in individuellen Sonderregelungen Therapien bewilligt.

Johanne W. hat allerdings das Pech, in Bremen zu leben und dort Mitglied der Deutschen Angestelltenkrankenkasse (DAK)zu sein. Drei Wochen, nachdem der Hausarzt den Antrag auf Kostenerstattung der Psycho-Behandlung gestellt hatte, wollte DAK-SAchbearbeiter Bleßmann erstmal wissen:„Wer stellte die Not

wendigkeit der Behandlung fest?“ Diese und andere Fragen solle Dr. Müller „kostenlos“ beantwortet, ein Freiumschlag sei beigefügt. Das „über Jahre bestehende tragende Vertrauensverhältnis“ (Antwortbrief Dr. Müller) zwischen Patientin und Therapeuten beantwortet Sachbearbeiter Bleßmann mit einer Liste von „Vertragsärzten“ für verhaltenstherapeutische Maßnahmen.

Obwohl schwer depressiv und immer noch unbehandelt, telefoniert Johanne W. die neun Telefonnummern ab. „Kein Anschluß unter dieser Nummer“ hieß es einmal, ein andermal war der Aufgeführte ein Krankenhausarzt, den die Vermittlung nicht ausfindig machen konnte. Die übrigen machten gar keine Verhaltenstherapie oder konnten keinen Termin anbieten.

Über das Ergebnis der Recherche informiert, wußte es Sachbearbeiter Bleßmann eine Woche darauf besser. Er hatte rumtelefoniert und bei zwei Ärzten erfahren, daß sie „einen Behandlungsplatz innerhalb von drei Monaten“ anbieten könnten.

Da Johanne W. eine Therapie aus eigener Tasche nicht bezahlen kann, bleibt ihr nur ein Widerspruch gegen den Bescheid ihrer Krankenkasse. Wird der in einigen Wochen oder Monaten abgelehnt, bleibt der Gang zum Sozialgericht.

DAK-Sachbearbeiter Bleß

mann versteht die Aufregung nicht. Über die von den Krankenkassen akzeptierten Ärzte hinaus seien weitere Psychologen nicht nötig, denn in Bremen sei ein Notstand bei der psychologischen Versorgung „nicht existierend“. Und: „Irgendwo muß ja eingegrenzt bleiben.“

Gegen die Angst vor überbordenden Psychokosten spricht allerdings die Erfahrung der Technikerkrankenkasse. Bei einem Volumen von sieben Milliarden Mark 1987 hat sie 13 Millionen für Psychotherapien ausgegeben.

Ob es bei den psychofreundlichen Regelungen von TK und

Betriebskrankenkassen nach Norbert Blüms Gesundheitsreform bleiben kann, ist allerdings völlig ungewiß. Falls nach dem 1. Januar 1989 Sonderregelungen nicht mehr möglich sind, wird das nach Ansicht von Kittel allein im Land Bremen etwa 3000 Menschen treffen.

Gaby Mayr