Grenzen und Grauen

■ Von der Suche im engen Raum zwischen „erlaubt“ und „verboten“

Thierry Chervel

Grenzen, dachte ich, muß man verletzen, weil sonst das Grauen, das dahinter lauert, in Vergessenheit gerät. Wer Grenzen verletzt, egal wie, ist eine zwielichtige Figur. Er steht im Verdacht, schon jenseits zu sein. Er ist noch in anderem Sinne zwielichtig: als einer, der sehen und zeigen, kapieren und ansprechen will, was hinter der Grenze ist das Grauen -, muß er zumindest eines daran schon akzeptieren - daß es existiert. Er muß davon fasziniert sein, sich sogar ein Stück weit damit identifizieren, für es eintreten, um es zeigen und ansprechen zu können, und sich dann selbst als der Grauenvolle hinstellen lassen. Leute, die mit Sprachregelungen im Kopf herumlaufen und gesenkten Blicks ausweichen, die, wenn sie am moralischsten werden, seltsamerweise immer mit der ästhetischen Kategorie des Geschmacks operieren und die Eide schwören, daß ihnen dies oder das Wort niemals über die Lippen käme, Kirchgänger, werden solche Grenzverletzer niemals leiden können. Faßbinder war ein Grenzverletzer. Ein Skandal wie der um sein Frankfurt-Stück vor zwei Jahren vermag mehr als hundert Versöhnungsfeiern. Vielleicht sind auch Brinkmann oder Kiefer Grenzverletzer.

Jedenfalls müssen die Grenzen gesucht werden, „die Gesellschaft“ oder „die Linke“ müssen aufschreien, und die Suche muß erlaubt sein, oder genauer: sie muß auch verboten sein, denn in diesem engen Raum von erlaubt und verboten bewegt sich die Suche.

Es ist eine Frage der Genauigkeit. Man muß wissen - oder wenigstens zu ahnen versuchen -, was man tut. Man kann nämlich auch über die Grenze treten, weil man deliriert und nicht mehr geradeaus weiß. Unbewußt oder halbbewußt um des zusätzlichen frivolen Reizes willen, tappt man daneben, wie Kapielski, als er den vollen „Dschungel“ mit einer Gaskammer verglich. So tritt man die Grenze aus. Sie wird harmlos dadurch, totgetreten wird das Grauen, das gerade wachgehalten werden muß. Es ist richtig, daß es dagegen Reaktionen gibt. Es ist auch richtig, daß, wer im Delirium danebentappt, fallen kann. Das Wort „gaskammervoll“ ist nur sagbar, wenn es in einen Zusammenhang gesetzt ist und nicht sich darin einschleicht. Zwielichtig bleibt es in jedem Fall.

Ohne ihn mit den oben Genannten gleichsetzen zu wollen, schien und scheint mir Wiglaf Droste in unserer kleinen Zeitung und in bestimmten Momenten einer zu sein, der es versteht, Grenzen zu verletzen, der es schafft, nicht bedenklich mit dem Kopf zu wackeln, wenn Barschel stirbt, und der in einer eleganten, indirekt gewendeten Formulierung zugibt, daß er einem bestimmten Sportreporter nicht nur keine Träne nachweinen würde. Darum war und bin ich immer für Wiglaf.

Sein Artikel über Alice Schwarzers Domenica-Reportage im Oktoberheft der 'Emma‘ hatte schon mehrere Tage vor Skandal und Plenum fertig belichtet bei uns gelegen. Der Text stand nicht unter meiner Betreuung, aber ich hatte ihn - nicht sehr gründlich - gelesen. Am Montag nachmittag, ein paar Stunden vorm Plenum, habe ich ihn für die Mittwochsseiten ins Blatt genommen (der überregionale Kulturteil hat zwei Tage Vorproduktion) und habe dabei sogar noch ein Detail mit Wiglaf geklärt („Wirklich das Oktober-, nicht das Novemberheft?“). Der Artikel hieß: „Konsensmilch und Euternasie“ und kulminierte in dem Satz: „Alice Schwarzer in 'Emma‘ über Domenica: ein klarer Fall von Euternasie.“ Dieser Satz und das Wort „Euternasie“ in der Überschrift sind von anderer Seite am Dienstag in letzter Minute gestrichen worden, ohne mein Wissen.

Ich selbst saß am Dienstag zu Hause am Schreibtisch und habe ständig an dieses Wort gedacht. Aber ich habe nicht in der taz angerufen, um es streichen zu lassen.

Es gibt einen Unterschied zwischen Kapielskis und Drostes Texten. Drostes Text geht nicht beiläufig gegen sechs Millionen Tote, sondern bewußt gegen eine Frau, von der man weiß, daß sie auch kämpfen kann. Droste qualifiziert seine Gegnerschaft durch Zitate. In seinen Attacken ad hominem beziehungsweise ad feminam greift er nach einem sekundären Geschlechtsmerkmal. Am Anfang stand wohl die Metapher „liebfrauenmilchig“, die sehr sprechend die süßliche, Differenzen zuklebende Frauentümelei in Alice Schwarzers Artikel kennzeichnet. Daraus folgen die schon gezwungenere „Konsensmilch“, die vulgäre „Tittengeschichte“, die ich gestrichen hätte, und als Höhepunkt „Euternasie“.

Droste ist danebengetappt, längst nicht genau genug. Er stellt eine Assoziation zu Naziverbrechen her, die mit dem Zusammenhang seines Textes nicht das geringste zu tun hat, um der Provokation willen. Hier ist der Unterschied zu Kapielskis Text nicht mehr so groß.

Ich bin für dieses Wort genauso verantwortlich wie Wiglaf. Ich hätte es noch am Montag, noch nach dem Plenum verteidigt. Was es sagt, habe ich überlesen. Es ist mir unterlaufen wie der Redakteurin das „gaskammervoll“. Das passiert, wenn man einen Autoren schätzt und gerade darum nicht mehr genau genug liest, weil man im Streß ist, weil man akute Kopfschmerzen, akuten Liebeskummer, akute Geldsorgen hat, weil man nur seine Pflicht tut, weil man eben mitläuft, ohne mitzudenken, bekanntlich das schlimmste Verbrechen der Geschichte.

Es sind Alltagsprobleme. Es geht um Kleinigkeiten, die nicht weniger perfide sind, es ist zum Beispiel ein Unterschied, ob es heißt: „40 Prozent der Textilgeschäfte waren in der Hand der Juden“ oder: “...in Besitz von Juden“.

Bei dem Plenum habe ich gegen die Redakteurin gestimmt, weil ich entsetzt war, daß sie nicht merken wollte, wie empfindlich diese Grenzen sind und wie infam es sein kann, sie leichthin zu übertreten. Vielleicht ist sie aus Trotz sehenden Auges in die Katastrophe gerannt, weil sie sich Leuten nicht beugen wollte, die immer schon gegen sie waren und jetzt die Gelegenheit ergriffen. Bei der Abstimmung habe ich mich gefühlt wie ein Henker und habe mich nicht mal in dieser Situation daran erinnert, daß ich selber noch vor ein paar Stunden mitgelaufen war.