Mit Augen eines Zehnjährigen

■ Hellmut Stern, heute Violinist und Stellvertretender Konzertmeister des Berliner Philharmonischen Orchesters, erzählt, wie er als Kind die Unterdrückung und den Progrom in Berlin miterlebte

Kleiner Kasten kommt noch!

Wann für mich das Gefühl der Bedrohung begann? Für die Zeit unmittelbar nach 1933 ist da nur die Erinnerung an die Verstörung zuhause. Die Erschütterung, als meine Eltern aus der Reichsmusikkammer ausgeschlossen wurden und nun nicht mehr arbeiten durften. Dann: meine Mutter weinte immer, wenn sie mich am Morgen für die Schule anzog. Eine andere Geschichte: 1934, also im Alter von sechs Jahren, war ich auf dem besten Wege, ein Filmstar zu werden. Ich war sehr hübsch, hellblonde Haare, Locken, blaue Augen; ich wurde unter 500 Kindern für einen Film ausgewählt, wo ich den Sohn von Brigitte Helm und Hans Albers spielen sollte. Ich erinnere mich sehr gut, wie ich in der Kantine auf dem UFA -Gelände in Babelsberg herumgereicht wurde, wie ich auf dem Schoß von Hans Albers saß. Kurz bevor die Verträge gemacht werden sollten, kam dann ein Brief. Die Absage. Als Jude unerwünscht. - Dann kam dies: meine Spielecke war der Rüdesheimer Platz, der Felsen dort, mit dem Reiter drauf, da kletterten wir herum. Auf einmal durften die anderen Kinder nicht mehr mit mir spielen. Und plötzlich waren dann gelbe Bänke da.

Warum mir die gelben Bänke besonders in der Erinnerung haften blieben? Es waren die erregten Gespräche zuhause, im Freundeskreis meiner Eltern: ob man sich auf diese Bänke setzen sollte oder nicht? Die einen sagten: das verbietet uns der Stolz. Da sagten die anderen: nein! Der Stolz verbietet es vielmehr, daß ich mich noch auf eine „normale“ Bank setze. Wenn man uns nicht haben will, dann nicht! Viele erregte Debatten und viele Fragen für mich.

Fragen, die beispielsweise auftauchten, wenn Jene unten vorbeimarschierten und sangen (singt): „Und wenns Judenblut vom Messer spritzt, dann gehts noch mal so gut.“ Das habe ich gehört. Ich war aber keineswegs entsetzt - ich habe es ja gar nicht auf mich bezogen. Ich bin ja mit dem Spielzug mitgerannt, habe Fackeln in der Hand gehabt, wie die anderen Kinder auch. Ich kam nach Hause und erklärte, ich wolle auch so eine schöne Uniform, wie eben die Pimpfe. Meine Mutter hat vergebens versucht, mir zu erklären, daß das nicht geht. Ich habe den Unterschied zwischen mir und den anderen nicht verstanden. Im Gegenteil: ich versuchte mit zwei Gürteln mir einen Schulteriemen zu basteln, eine Pimpfuniform nachzuahmen.

Diese kleinen Episoden, keine für sich besonders dramatisch, bedeuteten eine Eskalation, eine Kette von kleinen Schocks. Und es wurde immer schlimmer. Ich wurde als „Judenjunge“ beschimpft, hörte „Juda verrecke“. Dann stand es auch an unserer Wand. Es tauchten die Schilder auf: „Kauft nicht bei Juden!“. Unübersehbar war vor allem aber „Der Stürmer“, der ja überall aushing. Der Zeitungstand in der Nähe der Kreuzung Laubacher Straße/Südwestkorso, der heute noch genauso aussieht wie damals vor fünzig Jahre, hatte so einen Kasten mit Drahtglas, in dem „Der Stürmer“ angeheftet war. Auch diesen Kasten gibt es heute noch. Mein Schulweg ging an diesen Kasten vorbei und ich lernte lesen und las. Ich begriff, daß das auf mich bezogen war und konnte es doch nicht auf mich beziehen.

Das ist das Schwere. Die Ermordung, die physische Vernichtung, das ist das eine. Die wissen nichts mehr. Die Ausgrenzung, die Paria-Rolle, sie war nicht nur schwer, sie hat bis heute angehalten. Wir sind keine Juden im religiösen Sinne. Ich will auch nicht in die Problematik des Judentums einsteigen. Seit zweitausende Jahre wirds diskutiert und wir wissen es bis heute noch nicht. Aber, eben, ganz so ist es nach Hitler nicht mehr. Wir deutsche Juden wurden plötzlich von den anderen als Nicht- Deutsche, als Juden betrachtet. Jetzt ist doch das Motto: „aus Nachbarn wurden Juden“. Die Verarbeitung dieses von den Nazis ausgestreuten Giftes hat nicht stattgefunden. Weder im Volk, noch bei uns. Wir waren kein Volk, wir waren Deutsche mosaischen Glaubens. Und bis auf den heutigen Tag fühle ich mich als Deutscher und fühle mich deswegen schuldig. Und Juden lassen mich schuldig fühlen: wie kann man...fragen sie. Sollten jene, der Abschaum der Menschheit, bis auf den heutigen Tag bestimmen können, wer wir sind, wiewohl wir doch viel länger hier waren. - Die Schicksalsgemeinschaft, in die wir damals gerieten, sie bestand eben aus bewußten Juden; aus denen, die es noch nicht einmal gewußt hatten, daß sie Juden waren, aus Getauften, ja auch aus Antisemiten unter den Juden (die gab es auch) - sie alle wurden zu Juden gemacht, ob sie wollten oder nicht. Ist das die giftige Frucht, die bis heute gereift ist? Oder muß man sagen: es ist ja auch ein Segen, denn wir hatten ja vergessen, wer wir sind? Eine unlösbare Kontroverse. Aber, auf jeden Fall, wir sind eine Schicksalsgemeinschaft geworden. Deswegen wollte ich, daß meine Kinder Juden sind. Wenn sie geschlagen werden, dann wissen sie, warum sie geschlagen werden. Das soll sich nicht wiederholen, was uns geschah, für eine Identität geschlagen zu werden, die wir gar nicht kannten.

ZDer 9. November, morgens

BZurück zur Geschichte, schließlich bin ich als Zeitzeuge gefragt. Mein Schulweg war Laubbacher Straße, Südwestkorso, der heutige Bundesplatz, Prinzregentenstraße, Ecke Badensche Straße. Dort war auch die Synagoge. Ich bin also so halb Acht den Südwestkorso entlang spaziert. Ich überquere die Kaiserallee und an der Ecke der Warziner Straße war ein Musikalienladen, demoliert. Voller Faszination sah ich diesen zertrümmerten Laden. Scherben auf der Straße, Noten, eine Klarinette, vollkommen verbogen, Geigen, in die die Leute reingetreten hatten. Zu diesem Zeitpunkt spielte ich schon Geige. Da war also der zerstörte Laden, morgens um acht und keine Leute weit und breit. Es weiter lag noch ein Klavier auf der Straße, offenbar von oben heruntergeschmissen. Schließlich ging ich weiter, näherte mich meiner Schule und sah dann schon den Feuerschein aus der Laterne oben auf der Kuppel der Synagoge. Da waren dann schon die Gaffer. Meine Lehrer standen draußen, mit den Klassen. Sie versuchten uns klarzumachen, daß wir auf den schnellsten Wege nach Hause gehen müßten. Aber so schnell gingen wir nicht. Es brannte. Die Feuerwehr war da, griff aber nicht ein. Die Schule, hinter der Synagoge liegend, brannte auch. Wie wir so standen, kam ein Lastwagen mit johlenden Hitlerjungen. Die beschmissen uns mit Steinen, mit richtig großen Pflastersteinen. Ich bekam auch einen Stein an den Kopf. Der Lehrer, Engel hieß er, trieb uns an, nun wirklich nach Hause zu rennen. Trotzdem, die Sache faszinierte mich, als ob mir jemand gesagt hätte, du mußt das alles sehen.

Ich fuhr also mit der S-Bahn zum Bahnhof Zoo. Als wir uns der Fasanenstraße näherten, sah ich, wie Flammen aus den drei Kuppeln der Fasanenstraßen-Synagoge emporstiegen. Ich höre heute noch, wie neben mir ein junger Mann zu seiner Frau sagte: „siehste, mit denen fängt es an, mit uns hört es auf.“

Beim Bahnhof Zoo war schon alles übersät mit Glasscherben. Ich ging erst einmal zur Fasanenstraße und stellte mich unter die Gaffer. Es war voll. SA-Leute hatten vor der Synagoge einen großen Haufen von Büchern, Gebetbüchern wahrscheinlich, aufgerichtet. Sie hatten irgendwo einen orthodoxen alten Mann hergeholt und zerrten ihn am Bart hin und her. Die Leute standen da und guckten zu. Einer sagte mir: „na, Kleener, hau mal ab.“ So bin ich mit dem Schulranzen auf dem Rücken zum Kurfürstendamm gelatscht.

Ein unglaubliches Bild. Alles voller Glasscherben. Menschen ranten hin und her. Jedes zweite Geschäft war geplündert. Ja, der ganze Kurfürstendamm war geplündert. Die Leute griffen in die Vitrinen. Es war immer noch früh Morgens. Die Leute bedienten sich in den Auslagen. Ich sah, wie sie sich die Ringe aufsetzten, Pelze umgezogen haben. Ab und an kamen Polizisten und versuchten die Leute wegzuscheuchen. Aber die waren sofort wieder drin in den Geschäften. Ich habe mich da fast bis mittags dort herumgetrieben. Dann mußte ich nach Hause, aus Angst vor Bestrafung und nicht etwa, weil ich der Meinung war, meine Eltern würden sich um mich besonders an diesem Tag sorgen. Auf diesen Gedanken kam ich gar nicht.

ZDie leere Wohnung

BAls ich nach Hause kam, war niemand da. Ich suchte mir was zu essen und begann zu warten. Irgendwann am Nachmittag: ich schaute aus dem Fenster. Plötzlich hielt da die „Grüne Minna“, das Überfallkommando. Ich sah, wie die da abstiegen und in unser Haus reinkamen. Es klingelte auch dann gleich. Sie kamen in die Wohnung, reguläre Polizei, mit ein oder zwei SA-Leuten. Die Polizisten waren von unserem Revier, man kannte sich damals. „Wo sind deine Eltern, wo ist dein Vater?“ Nach einer Weile akzeptierten sie dann, daß ich es nicht wußte und zogen wieder ab. Sie gingen dann noch nach oben. Es wohnten da wohl noch Juden, was ich auch erst zu diesem Zeitpunkt erfuhr. Ich hörte sie rumtrampeln. So etwas hört man ja. Schließlich fuhren sie ab. An diesem Punkt, so erinnere ich mich, fing ich an, Angst zu bekommen. Auch hatte ja noch nie erlebt, daß meine Eltern nicht da waren.

Abends kamen meine Eltern, jeder für sich. Sie hatten sich versteckt. An dem Tage sind ja zig-Tausend abgeholt worden. Am nächsten Tag schon, glaube ich, kam ein Erlaß von Göring, wonach alle, die gültige Pässe hatten, ausreisen können. Wir hatten Pässe mit einem Visum für China, genauer für das Kaiserreich Mandschukuo.

Auch wenn es den Progrom nicht gegeben hätte: die Auswanderung war beschlossen. Und die Angst lastete, daß es vielleicht schon zu spät sein könnte. Aber nun hieß es tatsächlich auswandern. Wir durften nur Kleidung, Wäsche, Erinnerungen etc. mitnehmen. Obwohl wir arm waren, mußten doch einige Kisten mit Hausrat gepackt werden. Da wir mittellos waren, konnten wir auf nichts verzichten. Wir durften nur zehn Mark pro Person mitnehmen. Wir selber aber durften nicht einpacken, das machten die Packer von der Spedition. In der Verbindungstür zwischen unseren zwei Zimmern thronte ein Beamter mit Parteiabzeichen und paßte auf, daß wir nicht unseren nicht vorhandenen Schmuck mitgehen ließen. Als der mal aufs Klo mußte, flüsterten die Packer uns zu, daß wir jetzt die Wertgegenstände rausholen sollten. Sie waren völlig fassungslos, als meine Mutter erklärte, wir hätten nichts.

Also, wir fuhren nachts vom Anhalter Gahnhof los nach Genua. Mittelos, nur mit einem Gutschein über eine Am Brenner war es eiskalt. Als wir umsteigen wollten in den Zug nach Genua, war da eine SS-Kette. Meine Eltern wurden abgeführt. Der Zug fuhr ab und ich blieb allein auf dem eisigen Bahnsteig zurück unter lauter SS-Leuten. Schließlich kamen meine Eltern zurück, nach einer Leibesvisitation. Dann mußten wir unter diesen Nazis warten, in der Angst, daß wir ein paar Meter vor Italien doch noch zurückgeholt würden. Schließlich kam ein Lokalzug, volle Abteile mit freundlichen Menschen und die „CONTE BIANCA MANO“ im Hafen von Genua erreichten wir noch rechtzeitig.

Klaus Hartung