Ungarn auf dem Weg zum Mehrparteiensystem

■ Regierung billigt Gesetz über Zulassung von Parteien und Gewerkschaften / Parteistatus wird später definiert / In Ungarn Zivildienst eingeführt / mögliche Nachfolger für Ministerpräsident Grosz im Gespräch / Sowjets beraten sich mit Ungarn über Reformkurs

Budapest (ap/dpa) - Die ungarische Regierung hat am Donnerstag den Weg zu einem Mehrparteiensystem freigemacht. Der Nachrichtenagentur 'mti‘ zufolge billigte das Kabinett ein neues Vereinigungsgesetz, das allen Bürgern und Organisationen die Gründung „politischer Parteien, Gewerkschaften, Interessenvertretungen“ erlaubt. Ferner genehmigte es die Einführung eines 36monatigen Zivildienstes anstelle des 18monatigen Wehrdienstes. Wieweit die neuen Parteien praktisch in der Lage sein werden, den Regierungs und Gesetzgebungsprozess des Landes zu bestimmen, bleibt vorerst noch offen. Ihr Status soll in einem weiteren Gesetz geregelt werden, das Bestandteil der neuen Verfassung werden soll. Deren Verabschiedung wird nicht vor 1990 erwartet. Bis dahin soll die kommunistische Partei auf jeden Fall ihre führende Rolle behalten. Justizminister Kalman Kulscar sagte laut 'mti‘, es werde auch ein Versammlungsgesetz vorbereitet, das Demonstrationen grundsätzlich erlaube.

Versammlungen und Demonstrationen müßten den Behörden drei Tage im voraus angekündigt werden, doch dürften diese die Versammlungen oder Kundgebungen nur dann verbieten, wenn „ein Verbrechen beabsichtigt ist oder die Rechte und Freiheiten anderer verletzt werden sollen“. Gegen ein Verbot könne Widerspruch eingelegt werden, über den dann binnen drei Tagen entschieden werden müsse.

Im Zuge der fortschreitenden Demokratisierung der Öffentlichkeit sind in Budapest drei Bewerber als Nachfolger von Ministerpräsident Karoly Grosz im Gespräch: Der Wirtschaftsexperte und ZK-Sekretär Miklos Nemeth, der Budapester Bürgermeister Pal Ivanyi und der Reformpolitiker und Staatsminister Imre Pozsgay. Der Chefredakteur des kommunistischen Parteiorgans 'Nepszabadsag‘, Gabor Borbely, sagte am Donnerstag nach einem Bericht der Nachrichtenagentur 'mti‘ in Budapest, diese drei seien bei der Suche nach geeigneten Kandidaten am häufigsten genannt worden. Grosz will das Amt des Regierungschefs Ende November abgeben und sich auf seine Arbeit als Parteichef konzentrieren. Das Politbüro soll sich am 22.November für einen Kandidaten entscheiden. Das Parlament wird in seiner Sitzung am 24.November voraussichtlich Grosz ablösen und einen neuen Regierungschef ernennen.

Der Leiter der Kommission für internationale Beziehungen des KPdSU-Zentralkommitees, ZK-Sekretär Alexander Jakowlew, hat am Donnerstag indessen in Budapest Gespräche „zur Förderung der ideologischen Zusammenarbeit“ geführt. Gesprächspartner auf ungarischer Seite waren die ZK -Sekretäre Matyas Szuros (für internationale Beziehungen) sowie Janos Berecz (Agitation und Propaganda).