Die ewige Unschuld

■ Von der Last ein israelisch-jüdisch-deutscher Patriot zu sein Michael Wolffsohns Buch „Ewige Schuld?“

Michal Bodemann

Der Historikerstreit treibt seltsame Blüten. Wir haben nun endlich den Punkt erreicht, wo wir aus der Perspektive eines jüdisch-bundesdeutschen Patrioten - als solcher bezeichnet sich der an der Hochschule der Bundeswehr lehrende Michael Wolffsohn - eine Rückendeckung der Position Ernst Noltes im Historikerstreit finden und dazu noch viel Entschuldigendes und Beruhigendes zum Verhältnis von Deutschen und Juden.

Wolffsohn verneint die im Buchtitel gestellte Frage einer „ewigen Schuld“ und einer deutschen Schuld überhaupt. Im Gegensatz zu Ralph Giordanos Feststellung einer „zweiten Schuld“ der Deutschen gibt es hier nun gar keine Schuld, mit der sich Deutsche herumschlagen müßten: Die auch von ihm in Anspruch genommene Gnade der späten Geburt, nach dem Motto I'm o.k., you're o.k. schlägt hier für Deutsche und Juden voll durch. Nun gibt es ja jenes scheinheilige Argument, demgemäß der israelisch-palästinensische Konflikt ohne Hitler nicht möglich geworden sei, und gewiß hat Wolffsohn recht, daß es absurd ist, Hitler in die Rolle eines indirekten Gründers des Staates Israel zu versetzen. Sicherlich wäre ohne den Zionismus nie ein jüdischer Staat auch nur denkbar gewesen. Und doch können wir die Tatsache nicht übergehen, daß Auschwitz mit dieser Staatsgründung etwas zu tun hat wie auch mit dem israelisch -palästinensischen Verhältnis. Ohne die Shoah (die Ausrottung der Juden, d.Red.) hätten sich die jüdischen Massen weder in Europa noch in Nordamerika, von anderen Erdteilen zu schweigen, weit zögernder mit dem Zionismus identifiziert, und ohne die Shoah und ihre Absorption in das jüdische religiöse Korpus wäre es wohl viel zögernder auch zu einer Absorbierung des Zionismus in die jüdische Religion gekommen.

Die geschichtliche jüdische Erfahrung und das schlechte Gewissen der nichtjüdischen Welt und ihre Hoffnung einer Lösung der „Judenfrage“ hat die Gründung des jüdischen Staates beschleunigt, wenn nicht sogar möglich gemacht. Selbst Wolffsohn konzediert, daß das schlechte Gewissen der meisten Staaten eine Rolle bei der Abstimmung der UNO -Vollversammlung am 29. November 1947 zugunsten Israels gespielt hat. Der reuevolle Adenauer und

die Macht der Juden

Eine „ewige Schuld“ kann es laut Wolffsohn vor allem deshalb nicht geben, weil Adenauer ja wiedergutgemacht und David Ben -Gurion ihm dabei geholfen hat. Der Autor meint, Adenauer habe die „moralische Ernsthaftigkeit“ der Wiedergutmachungsabsicht „ohne amerikanischen Druck“, ja sogar gegen die amerikanischen Interessen verwirklicht, mit „aufrechtem Gang“ zwar, doch „allein aus der Bereitschaft zur Sühne“. Ausgerechnet Adenauer also, ein Realpolitiker par excellence, in der politisch ohnehin schwierigen Nachkriegszeit, betrieb gegenüber den Juden eine Politik auf der Basis reiner Nächstenliebe!

Wolffsohn ist derart fixiert auf seine Idee von Adenauers reiner Herzensgüte, daß er sich nicht einmal mit der gegenteiligen Evidenz, die er doch kennt, auseinandersetzt. Tatsächlich gibt es überwältigende Evidenz dafür, daß eine neue Politik gegenüber den Juden wesentlich aufgrund dreier Faktoren zustandekam: erstens aufgrund des amerikanischen Drucks (McCloy); zweitens aufgrund der erschreckenden Wahlerfolge der neo-nazistischen Sozialistischen Reichspartei; drittens vor allem aufgrund weiterer außen und innenpolitischer Faktoren. So sprach Adenauer selbst der zunächst die Wiedergutmachung mit dem Bau eines einzigen Krankenhauses in Israel zufriedenzustellen gedachte - um 1950 oft von Initiativen, die in den „Augen der ganzen Welt“ (!) darstellen würden, daß die Deutschen die Verbrechen an den Juden (also hier schon: nicht auch an anderen Verfolgtengruppen) bedauerten. Adenauer hatte darüber hinaus eine geradezu panische Angst vor dem „Einfluß der jüdischen Bankkreise“ und warnte vor der „Macht der Juden“ in der amerikanischen Regierung. Selbst Franz Böhm, ein Wiedergutmachungsunterhändler, dem die moralische Motivation noch am ehesten zuerkannt werden könnte, argumentierte zweckrational: eine Wiedergutmachung sei notwendig, um Deutschlands internationales Prestige wiederherzustellen, einen deutschen Beitrag zum Wiederaufbau der Freien Welt zu leisten, und letztlich sei eine Wiedergutmachung wünschenswert wegen ihrer politisch-moralisch-erzieherischen Wirkung „nach innen“.

Wolffsohn meint, daß Adenauer aus reiner Menschenliebe und Reue diese Wiedergutmachungsleistungen wünschte - aber warum hat er dann bis 1951 dazu fast gänzlich geschwiegen? Hat andererseits Ben-Gurion aus Freundschaft zu Adenauer oder zu den Deutschen die Wiedergutmachung ermöglicht? Keineswegs. Mit der massiven Einwanderungswelle nach der Gründung Israels und seiner knappen Finanzen wurde die Frage einer finanziellen Wiedergutmachung seitens der Bundesrepublik dringend akut. Ben-Gurion wollte diese Wiedergutmachung ohne direkte Verhandlungen erreichen; nicht eben ein Weg zur Versöhnung und für die deutsche Seite genau deshalb inakzeptabel, weil es ihr ja gerade um eine sichtbare Legitimierung der deutschen Seite durch die Israelis ging.

Schließlich: wenn Adenauer als „reuevoller Deutscher“ ernsthaft Sühne gegenüber Israel leisten wollte, warum dann mußte er ausgerechnet einen Oberländer, einen Seebohm und andere dieses Schlages ins Kabinett holen und einen Globke zu seinem engsten Vertrauten machen, von den vielen anderen Nazis in Regierungsdiensten ganz zu schweigen? Juden als Antidote zur Linken

Der Autor übersieht dabei wesentliche, sowohl von Adenauer wie auch von anderen CDU-Politikern (Blankenhorn, Böhm u.a.) ausgesprochene innenpolitische Gründe für die Wiedergutmachung: die Vernutzung der wenigen Juden in der Bundesrepublik als Aushängeschild wog durchaus die Rehabilitierung von unzähligen alten Nazis auf, nach der Devise: wo Juden überleben können, kann es ja keine wirklichen Nazis geben. Überdies wurden die Juden nutzbar gemacht für die Ver-religiösierung der Gesellschaft, als Antidote zur antifaschistischen Linken im Kalten Krieg. Unter Adenauer wurde das eigentliche Opfer der Nazis nun die Religion selbst, und den Juden als einem Teil „aller positiv gläubigen Menschen unseres Volkes“ (Adenauer) fiel somit eine besonders zentrale Rolle zu.

Die Ewige Schuld-Thematik, ein merkwürdiges Herunterspielen des deutschen Antisemitismus und positives Überzeichnen angeblich pro-jüdischer deutscher Initiativen führt Wolffsohn freilich auf besonders gefährliches Eis, wo er das Argument einiger jüdischer Theologen übernimmt und die Einzigartigkeit des Shoah bezweifelt. Wolffsohn argumentiert zwar nicht wie Nolte, daß sich Auschwitz einreiht in angeblich vergleichbare Verbrechen der Menschheit, sondern daß für „traditionsbewußte Juden“, zu denen er sich zuweilen zählt, „der Holocaust ein keineswegs einzigartiger Teil der langen Leidensgeschichte seines Volkes“ sei. Die „Holocaust -Fixierung“, so Wolffsohn weiter, sei ein Hinweis auf den Bruch mit der religiösen Tradition, einer „religiösen Dejudaisierung“ des Judentums und „zerschneide die Leidenskette der Generationen..., indem ein Leid so viel mehr als andere betont wird“.

Genau das Gegenteil ist der Fall. Die Shoah wurde durchaus in das jüdische religiöse Korpus integriert. Man denke nur an die Art und Weise, in der Elie Wiesel gerade in den Synagogen aufgenommen wird. Wir erklären die Shoah nicht zu einem übernatürlich-unerfaßlichen Phänomen, wenn wir uns weigern, diesen sehr bedenklichen Thesen zu folgen, die Auschwitz zu einem quasi selbstverständlichen Ereignis der Diaspora-Existenz erklären. Hier gesellt sich die jüdische Rechte - von Meir Kahane und Konsorten sind wir ja ähnliches gewohnt - zur deutschen Rechten a la Nolte, die Auschwitz aus eigenen nationalen Gründen herunterspielt. Die armen verfolgten

Deutschen

Schließlich muß die allgemeine Trivialisierung des jüdisch -deutschen Komplexes irritieren, diese Symmetrie, die Wolffsohn zu konstruieren sucht. So brauchen die Juden die Shoah zu ihrer Identitätsfindung und machen deshalb die Deutschen zum unschuldigen Prügelknaben; zum Antisemitismus der Deutschen geselle sich heute der Antigermanismus der Israelis, dessen Struktur - so Wolffsohn - sich vom Antisemitismus in keiner Weise unterscheide! Wenig kümmert Wolffsohn dabei die Frage, wie die Deutschen nach 1945 und heute mit der Geschichte ihres Volkes und der Schuld der Väter umgehen - denn Adenauer hat ja alles wiedergutgemacht.

Diese Nivellierung, die Wolffsohn betreibt - im Zuge eines Versuchs, die jüdisch-deutschen Beziehungen als normal zu definieren -, drückt sich auch noch anderweitig aus. So macht der Autor mit Hilfe statistischer Berechnungen die Tourismusstatistik zwischen der Bundesrepublik und Israel zum Gradmesser der angeblichen Normalisierung. Der Autor bezeichnet weiter den Antisemitismus als „altdeutsch-braunen Bazillus (sic)„; also Neonazismus als einen Anachronismus, den wir vermutlich nur müde belächeln sollten, zumal die Meinungsumfragen im wesentlichen nur die älteren Deutschen mit Antisemitismus belasteten. Weiter: genau wie die Deutschen haben auch die Alliierten direkte und indirekte Schuld auf sich geladen, weil sie die Verfolgten nicht aufgenommen haben. Und der Bitburg-Protest stellt offenbar nichts anderes dar als eine „von Ministerpräsident Shamir angekündigte Gegenoffensive Israels und der amerikanisch -jüdischen Organisationen“ - eine jüdische Weltverschwörung also? Ein naives und schändliches Urteil über die weitverbreitete spontane Empörung, die sich damals vor allem in Nordamerika unter Juden und Nichtjuden gleichermaßen breitgemacht hat. Amtsjüdische

Unterwürfigkeit

Nach der Lektüre von mehr als neun Zehnteln dieses Buches würde, so sollte man meinen, nichts mehr überraschen. Doch am Ende tauchen plötzlich einige Passagen auf, die verwundern, denn ein unkritischer Apologet des jüdischen Establishments in der Bundesrepublik scheint Wolffsohn bei alledem nicht zu sein. Er kritisiert die Diskriminierung und Abschottung der in der Bundesrepublik lebenden Ostjuden durch die deutschen Juden bis hin zur „Deutschtümelei und innerjüdischen Ausländerfeindlichkeit“ des Zentralrates der Juden in Deutschland. Wolffsohn attackiert nicht nur ihre „Israel-Fixierung“, die aus der Isolation in der Diaspora resultiere, sondern auch die Rolle des „Alibi- und Hofjuden“, für die Werner Nachmann ein Beispiel unter anderen ist. Schließlich beklagt sich Wolffsohn über die mangelnde demokratische und geistige Legitimierung der jüdischen Repräsentanten, ihren Anti-Intellektualismus, die „amtsjüdische Unterwürfigkeit gegenüber bundesdeutschen Politikern“ sowie über das mangelnde Verständnis für aktionistische „Basispolitik“. Warum schreibt er das? Doch nicht etwa, um die Makel der nichtjüdischen mit denen der jüdischen Seite abzugleichen?

Diese und etliche andere Passagen zeigen, wie hin- und hergerissen Wolffsohn ist. An sich wäre er ja gerne ein Teil der kleinen Riege der jüdischen akademischen 68er - und dann doch wieder gerne bei der CDU oder FDP, obwohl auch das nicht so ganz zu passen scheint. Als wandelnden Anachronismus bezeichnet er sich, den „bundesdeutsch -jüdischen Patrioten“. Gerne würde er allen gefallen: dem geschmähten jüdischen Establishment, der CDU, Nolte, den 68ern. Doch er sitzt zwischen allen Stühlen und ist so Ausdruck der Isolation und Deplaziertheit jüdischer Existenz in der Bundesrepublik. Nur so wird verständlich, weshalb er die Adenauer/Ben-Gurion-Ära, die Zeit seiner Kindheit, zu einem Goldenen Zeitalter verklärt: die Zeit zweier blumenbekränzter „Giganten“, von hehren Idealen beseelt, in denen sich Jüdisches und Deutsches idyllisch vereint. Denn wie sagt er doch treffend selbst: „Bekanntlich ist die Erinnerung das einzige Paradies, aus dem wir Menschen nicht vertrieben werden können.“

Michael Wolffsohn, Ewige Schuld? 40 Jahre deutsch-jüdisch -israelische Beziehungen, R. Piper Verlag, München 1988, 186 Seiten