: In den Fußstapfen von Chiracs Gegenreform
Seit sechs Monaten regieren sie wieder. Als handelte es sich um eine pure Selbstverständlichkeit, haben Frankreichs Sozialisten erneut ihre Regierungsämter eingenommen, die ihnen vor zwei Jahren abhanden gekommen waren - nach jenem Erdrutsch-Sieg der Rechten bei den Parlamentswahlen 1986. Plötzlich glichen die zwei zurückliegenden Jahre der „Cohabitation“ zwischen Mitterrand und Chirac, während der Frankreich sich dem Diktat einer Gegenreform-süchtigen Rechtsregierung ausgeliefert sah, einem kurzzeitigen Intermezzo in einem Jahrzehnt, dessen Geschichte die Sozialisten schreiben.
Und ist es nicht ein Zeichen der Zeit, daß Jacques Chirac seit seiner Wahlschlappe im Frühjahr kein Wort über die neue Regierung verloren hat? Die Sozialisten verwalten den Staat heute im Bewußtsein, daß ihnen die Macht auf lange Zeit gesichert ist.
Chirac schweigt dazu nicht ohne Grund, weiß er doch heute, daß seine Mühen nicht umsonst gewesen sind: Was bis vor sechs Monaten für die sozialistische Parlamentsopposition als reaktionäre Sozialpolitik oder rassistisch angehauchte Ausländergesetzgebung galt, ist heute immer noch Regierungspolitik.
Mit sichtlichem Stolz trat unlängst der sozialistische Innenminister Pierre Joxe vors Parlament, um die erkleckliche Zahl der seit seinem Amtsantritt ausgewiesenen Ausländer zu verkünden. Als Joxe argumentierte, „Frankreich habe nicht die Mittel, zum Auffangbecken aller Entrechteten der Dritten Welt zu werden“, erntete er den demonstrativen Applaus von Chiracs ehemaligem Polizeichef Pandraud, der seinerzeit Ausländer bisweilen in Ketten in ihre Heimatländer verfrachtet hatte. Keine Rede ist mehr davon, Chiracs Gegenreform wieder aufzuheben, die der Justiz die Entscheidungsgewalt über Ausweisungen entzog und sie allein in die Hand des Innenministers legte.
Vergessen ist auch die sozialistische Kritik am Privatisierungsprogramm der Rechtsregierung, dem eine große Anzahl staatlicher Betriebe zum Opfer fiel. So entschied Kulturminister Lang, den einst von ihm heftig verurteilten Verkauf der französischen Fernsehanstalt TF1 an den Baumagnaten Bouygues nicht mehr rückgängig zu machen.
Sogar im Bereich der Sozial- und Arbeitspolitik steckten die Sozialisten zurück. Ihr Versprechen, den gesetzlichen Entlassungsschutz wiedereinzuführen, den Chirac aufgehoben hatte, ist für den neuen Arbeitsminister Soisson kein Thema mehr.
Wie wenig sich noch sozialistische von rechtsliberaler Regierungspolitik unterscheidet, illustriert die Reaktion von Verkehrsminister Delebarre auf die Streiks in der Pariser U-Bahn: „Die verantwortlichen Gewerkschaften unterhöhlen das Streikrecht, indem sie jeden Tag Tausende von Verkehrsteilnehmern als Geisel nehmen.“
Ebenfalls am Montag dieser Woche hatte der Rechtsaußen der Chirac-Regierung, Ex-Innenminister Charles Pasqua, die Streiks so kommentiert: „Es handelt sich hier um Abweichungen vom Streikrecht, bei der die Verbraucher als Geiseln dienen.“
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