KOMMENTAR: Rasante Dynamik
■ Neue Verfassung in der UdSSR
Der immer zutreffende Satz der Zeitungsmacher „nichts ist älter als die Zeitung von gestern“ kann schon wörtlich auf die Ereignisse in der Sowjetunion übertragen werden. Die politische Dynamik hat sich dort so rasant entwickelt, daß Top-Ereignisse wie der Machtkampf mit den Orthodoxen im Oktober schon Schnee von gestern sind. Und wenn die Stärkung der Stellung der Sowjets, die Wählbarkeit der Delegierten, die Trennung von Partei und Staat, die Stärkung der Position Gorbatschows als Quasi-Präsident noch vor Tagen sensationellen Charakter hatten, so sind heute neue Fronten aufgetaucht, die die politischen Auseinandersetzungen verlagern.
Wenn jetzt die Vertreter der baltischen Republiken die Verfassungsreform schon für veraltet betrachten und im Obersten Sowjet fordern, mit eigenen Schnittmustern ihre eigene Perestroika zu prägen, deren Wahlgesetze weitergehender als die jetzt verabschiedeten sein würden, dann ist eine Kritik aufgetaucht, die die Reformpolitik des Zentrums in Frage stellt. Während es bei Gorbatschows Entwurf vor allem auch darauf ankommt, die Machtstellung der reformerischen Kräfte in den zentralen Institutionen zu stärken um die Reformen von oben zu verwirklichen, wollen die Reformer in den höchst entwickelten Republiken jetzt schon weit mehr an Demokratie wagen.
Die nationalistischen Konflikte und Pogrome in Aserbeidjan und Armenien scheinen zu beweisen, daß ohne starkes Zentrum noch kein neuer Reformstaat zu machen ist. Doch der Ausbruch der grausamen Feindseligkeiten hängt auch damit zusammen, daß es die Moskauer Führung im Februar versäumt hatte, glaubwürdig einen Kompromiß zuwegezubringen. Wenn es Gorbatschow jetzt nicht gelingt, sich die Wünsche nach einer Beschleunigung der Demokratisierung und nach mehr Selbständigkeit in den Republiken nachzukommen, sind die nächsten Konflikte programmiert. Sein Hinweis, eine „starke Union“ sei „ein starkes Zentrum mit starken Republiken“, ist jedenfalls ein alter Hut.
Erich Rathfelder
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