Adonis zu hören

■ Über die Lesung des syrischen Dichters

Adonis trägt seine Lyrik nicht einfach vor. Er musiziert mit Worten. Kein deutscher Begriff erfaßt diese Besonderheit der arabischen Kultur - eine Art Musikpoesie. Keinem Genre in unseren Breitengraden vergleichbar, zumindest nicht in dieser Blüte. Am ehesten noch erinnert sie an Experimente wie die dadaistischen Wortknäuel aus Lautmalereien oder an starkdeutsche Zungenbrecher. Die arabische Lyrik spielt mit der Dehnbarkeit der arabischen Sprache. Wie sie in der Kalligraphie zum Bild, zum Ornament werden kann, wird sie in der Poesie zur Musik, zur Harmonie.

Adonis‘ Gedichte sind Tondichtungen. Schwer zu beschreiben. Die Ausstrahlung erinnert mich an Atahualpa Jupanqui, an den Gaucho aus der Pampa Argentiniens, wie er seine Erzählungen vorsingt. Adonis allerdings ohne Gitarre. Dafür mit zusätzlichen spannungsgeladenen Klangfarben in Stimme und Rhythmus. Aber mit einem vergleichbaren Grundtenor einer ruhigen, vertrauensvoll tiefen, leicht rauchigen Stimme, die im Takt wechselt zwischen langen gutturalen Aahs und Oohs mit einem Stakkato arabischer Knacklaute als Percussion.

Die Sprache läßt die kalligraphischen Ornamente im Raum schwingen. Es ist mucksmäuschenstill. Ab und zu, wenn die Spannung zu unerträglich wird, schnalzen hingebungsvoll einige Zuhörer ihr „Yal'la“ in den Raum. Am Schluß reißt es die Zuhörer von den Stühlen. Stehend reichen sie ihre Ovationen dar. Kein Wunder, daß Kassetten von Adonis beinahe wichtiger sind als seine Bücher.

Thomas Hartmann