„Sie jagen auf Menschen wie auf Tiere“

Nürnberger Schwurgericht folgt den Spuren des NS-Gendarms Wilhelm Wagner ins polnische Wieliczka, wo die Erinnerung an den ehemaligen Gendarm Wagner, der sich in Nürnberg wegen mehrfachen Mordes an polnischen Juden verantworten muß, noch lebendig ist / Tagebuch widerlegt Version des Angeklagten  ■  Aus Wieliczka Bernd Siegler

Eine Kolonne von fünf Fahrzeugen durchquert das polnische Städtchen Wieliczka, etwa 12 km von Krakow (Krakau) entfernt. Wieliczka ist ebenso grau und trist wie der kalte Novembermorgen. Das Salzbergwerk, seit dem 13.Jh. ununterbrochen in Betrieb, und die Rauchfahnen der dazugehörigen Industrie zeigen ihre Spuren. Die Autos halten bei einem Haus am Marktplatz der 18.000 Einwohner zählenden Stadt. Deutsche und polnische Richter, Staatsanwälte, Rechtsanwälte, Fotografen und Dolmetscher steigen aus. Sie fotografieren das Haus von allen Seiten, befragen den Besitzer und einen zufällig vorbeikommenden älteren Juden.

Die zehnköpfige Delegation wandelt nicht auf den Spuren eines Johann Wolfgang von Goethe, eines Zaren Alexander I. oder Papst Johannes XXIII., die sich wegen des weltberühmten Salzbergwerks in die Besucherlisten von Wieliczka eingetragen haben. Im Mittelpunkt des Interesses steht Wieliczka als Tatort des Holocausts, der spätestens seit Mitte 1942 zum Alltag einer jeden polnischen Stadt gehört hat. Unter Vorsitz eines Richters und eines Staatsanwalts des Wojewodschaftsgerichts Krakow versucht die Abordnung des Nürnberger Schwurgerichts den Spuren des heute 82jährigen Wilhelm Wagner zu folgen.

Seit dem 12.September dieses Jahres muß sich Wagner vor dem Nürnberger Schwurgericht wegen der Ermordung von Juden in Wieliczka verantworten. Der Gendarm, dem die Bekämpfung des Schleichhandels und die Preisüberwachung oblag, soll sich Ende August 1942 an der Aktion, Wieliczka „judenrein“ zu machen, beteiligt und im Anschluß daran die Häuser nach versteckten Juden durchgekämmt haben. Von ursprünglich 1977 angeklagten 29 Mordvorwürfen sind elf Jahre später noch drei übriggeblieben im Sinne eines „überschaubaren Verfahrens“ (Schwalm).

„Es war ein blutiger Tag“

Seit dem 20.August 1942 zogen Menschenmassen aus den umliegenden Dörfern und Städten nach Wieliczka, wie es die Deutschen befohlen hatten. Zwei Tage später sind schon 11.000 Juden in der ursprünglich 17.000 Einwohner zählenden Stadt. Doch, „die Stadt ist leer, alle haben sich in den Häusern versteckt, wie bei einem Gewitter“, Juden außerhalb von Wieliczka würden erschossen, hat Maria Bajorkowa vor 46 Jahren heimlich in ihr Tagebuch notiert, das bislang keinen Eingang in den Prozeß gefunden hat.

Am 25.August taucht Gendarm Wagner zum ersten Mal in ihrem Tagebuch auf. „Er ist blond, mit einem roten Gesicht. Ich weiß jetzt, daß Wagner, der jüngste Gendarm, die Aussiedlung der Juden leiten wird.“ Busse mit Soldaten der SS, „typische Mörderfratzen“, kommen in Wieliczka an. Am 26.8.1942 läßt Kreishauptmann Schür bekanntmachen, daß einen Tag später die „Aussiedlung“ der Juden aus Wieliczka beginnt. Jeder Pole, der die Aussiedlungsaktion in irgendeiner Form verzögert oder erschwert, der einen Juden bei sich aufnimmt oder ohne Erlaubnis die Wohnung eines ausgesiedelten Juden betritt, wird demnach erschossen. „Herumstehen auf der Straße während dieser Aktion ist verboten. Fenster sind zu schließen.“ In der Nacht hört Maria Bajorkowa MG-Salven. „Es war ein blutiger Tag, sie haben auf Menschen geschossen, als wenn sie betrunken wären.“

Endstation Belzec

Am nächsten Morgen versammeln sich um 7.30 Uhr die Juden auf dem Sammelplatz beim Bahnhof. „7.000 Juden stehen nur 200 Schlägern der Polizei und SS gegenüber, aber sie warten, sie glauben noch nicht an das Schreckliche, sie wollen den Gedanken nicht an sich heranlassen.“ Bis 16.00 Uhr müssen die Juden dort stehenbleiben. Alte und kranke Menschen und Kinder werden ausselektiert und im Wald bei Niepolomice erschossen. Die anderen müssen vergitterte Waggons besteigen, deren Boden mit Kalk bestreut ist. Um 17.30 verlassen die ersten Züge den Bahnhof von Wieliczka. Endstation sind verschiedene Arbeitslager und das Vernichtungslager Belzec.

In den folgenden Tag wird von Gendarm Wagner erwähnt, daß er mehrmals „rot vor Wut“ ist, weil die Dorfvorsteher in der Umgebung von Wieliczka ihrer Aufgabe, „die Juden zu fangen“, nicht nachkommen würden. „Sie (Gendarmen und SS, d.Red.) jagen auf Menschen wie auf Tiere.“ Maria Bajorkowa weiß, worüber sie geschrieben hat. Sie wohnte gleich gegenüber der Gendarmerie-Station - immer die Eingangstüre im Blickfeld.

„Das Haus ist ja völlig unverändert, sogar die Fenstersprossen stimmen“, entfährt es Richter Stockinger als er mit der Delegation davor steht. Man kann sich gut vorstellen, wie im Nachbarhaus Maria Bajorkowa das Treiben in und vor der Gendarmeriestation hinter den Vorhängen versteckt beobachtet hat. Sie notierte nachts, was sie am Tage gesehen hat, versteckte das Geschriebene in ihrem Zimmer oder vergrub es im Garten. Wagner hätte es sich vor 46 Jahren, als er sich in seiner schmucken Uniform im Jahr 1942 mit seinen Kollegen vor der Wache ablichten ließ, nicht träumen lassen, daß das Foto heute als Beweismittel dient.

Maria Bajorkowa lebt schon lange nicht mehr. Ihr Sohn Leslaw Bajorek bewohnt heute das Haus. Doch ihre Erinnerungen und seine Aussagen interessieren die Gerichtsdelegation ebensowenig, wie das Waldstück in Niepolomice, wo die Mordtaten geschahen. Das Schwurgericht ist fixiert auf die drei angeklagten Fälle, eine Aufarbeitung der ganzen Wahrheit von Wieliczka im August 1942 ist nicht ihr Fall. Leslaw Bajorek war damals 19 Jahre alt. Er erinnert sich noch sehr gut an Gendarm Wagner. „Ich habe gesehen, wie Wagner einen Mann erschossen hat“, erzählt er einen zusätzlichen Fall, der in Nürnberg nicht verhandelt wird. Ein Mann sei mit dem Wagen zur Polizeistation gebracht worden. „Dann habe ich Schüsse gehört. Wagner näherte sich dem auf dem Boden liegenden Mann, der anscheinend nur verletzt war, und erschoß ihn mit seiner Pistole - vor meinen Augen.“

„Mord bleibt Mord“

Bajorek ist nicht der einzige, der sich noch genau an Wagner erinnert. Für den in Wieliczka geborenen und heute noch lebenden Geschichtsprofessor Stanislaw Gaweda (72), der der Warschauer „Hauptkommission zur Untersuchung der Naziverbrechen in Polen“ angehört, ist Wagner kein Unbekannter. „Er war bekannt als sehr scharfer Gendarm.“

Gemeindevorsteher Kazimierz Domanik, der stolz ist, 1990 als Bürgermeister das 700jährige Stadtjubiläum feiern zu können, weiß dagegen nichts von Wagner. Mit 43 Jahren ist er zu jung und weiß nur wenig über Wieliczkas dunkle Vergangenheit. Trotzdem ist er der Meinung, daß es richtig ist, auch nach 46 Jahren noch derartigen Fällen nachzugehen. „Jeder Tod ist eine Tragödie.“ Mitnichten eine dahergeredete Floskel, denn er fügt hinzu: „Jede Mordtat bleibt immer Mord und jeder Mörder bis zu seinem Tode ein Verbrecher.“ Auf die Frage, ob man denn einen 82jährigen noch vor Gericht stellen könne, antwortet er: „Hat der Mann auf das Alter der Opfer geschaut, bevor er sie ermordet hat?“

Wagner muß ein sehr „engagierter“ NS-Gendarm gewesen sein, denn viele Zeitzeugen schreiben ihm einen höheren Posten in der Gendarmerie zu, als er ihn real innegehabt hatte. Für viele Zeugen war er der stellvertretende Kommandant, für den Verfasser des 1968 erschienenen Buches Wieliczka - die alte Bergmannsstadt, dem Polen Kazimierz Pajak, ist Wagner gar Kommandant der städtischen Sonderdienst-Hauptwache. Auch für Maria Bajorkowa gibt Wagner mit seinem Verhalten zu verstehen, daß er der Herr im Haus der Polizeiwache in Lekarka ist. Für sie ist er der Leiter der gesamten Aussiedlungsaktion. Außer Wagner kommt bei ihr nur noch Gendarm Kremer (wohl Krewer) namentlich vor und der Volksdeutsche Gromala, der als besonders grausamer Polizist auch in den bundesdeutschen Gerichtsakten auftaucht. Zum Abschluß des Tagebuchs am 31.8.1942 schreibt sie: „Und jetzt mordet Polizist Gromala unter der Aufsicht von Gendarm Wagner.“

Tatort unverändert

Daß sich in Wieliczka seit 1942 nicht sehr viel geändert hat, zeigt eindrucksvoll das eingangs geschilderte Haus am Marktplatz. Das Aussehen des Gebäudes deckt sich exakt mit der Beschreibung von Max Milner (62), dem bisherigen Hauptbelastungszeugen. Milner, damals 16 Jahre alt, hatte das Glück, zu einem Arbeitskommando eingeteilt zu werden. Er mußte die von Juden verlassenen Häuser durchsuchen und ausräumen - darunter auch dieses Haus. Milner sprach vor Gericht von einem Haus mit mehreren Eingängen und vielen Geschäften, einem Haus mit Tiefparterre. Dort hatte die Jüdin Hanke Berger gewohnt. Sie war krank und bettlägerig. Milner war im Zimmer nebenan, als Wagner Frau Berger erschossen haben soll. „Dann kam Wagner aus der Tür, er war der einzige in diesem Zimmer.“ Die Ermordung des alten, blinden Uhrmachers Sobel hat Milner aus nächster Nähe gesehen. Wagner habe zweimal geschossen, anschließend die Leiche aus dem Bett geworfen und die Treppe herunter -gestoßen, so daß sie auf die Straße fiel. Wagner bestreitet nach wie vor alle diese Aussagen als „von A bis Z erlogen“. Das Gericht konnte sich zuerst nicht vorstellen, daß es derartige Häuser gibt, deren Wohnungstreppe direkt in die Haustreppe übergeht und dann auf die Straße führt. „Das ist die Treppe“, ruft Richter Stockinger, als er vor dem Haus steht, „da fliegt man gleich von der Küche auf die Straße.“

Wagner bestreitet, bei der Deportation überhaupt im Ort gewesen zu sein. Stattdessen sei er als einziger Gendarm an dem fraglichen Tag die ganze Zeit bei der Wache postiert gewesen. Maria Bajorkowas Tagebuchaufzeichnungen widerlegen Wagner. An diesem Abend beobachtet Maria Bajorkowa eine jüdische Frau, die an der Polizeistation vorbeigeht. Sie fällt ihr auf, weil sie im Sommer einen dicken Pelzmantel trägt. Ein deutscher Polizist, ein Angehöriger einer Einheit zur Partisanenbekämpfung, der fließend polnisch spricht, ist in Zivil als einziger auf der Wache. Er geht der Frau nach. Sie spricht ihn an, sie weiß offenbar nicht, wen sie vor sich hat. Beide unterhalten sich gut. Maria Bajorkowa notiert: „Da habe ich mir gedacht, es sind doch nicht alle Deutschen schlecht.“ Dann bittet der Deutsche die Jüdin, mit ihr zu gehen. Sie läuft ein kleines Stück vor ihm, plötzlich hebt der Deutsche seine Hand mit der Pistole und erschießt die Frau von hinten.

Verstecktes Mahnmal

Nach der Polizeistation sucht die deutsch-polnische Abordnung den ehemaligen Sammelplatz der Juden auf. Zeugen erinnerten sich an eine Ziegelei, die damals am Rande des Platzes gestanden haben soll. Sie steht heute noch, doch aus dem Platz, von dem aus tausende Juden in den sicheren Tod gingen, ist heute ein holpriger Fußballplatz geworden. Die ehemalige Synagoge und das Kinderheim, in dem Wagner kleine Kinder an den Füßen gehalten und mit den Kopf gegen die Wand geschleudert haben soll, findet die Delegation nicht mehr. Dafür aber die einzige Gedenkstätte, die heute in Wieliczka an den Holocaust erinnert. Am Ortsrand, versteckt auf einem Hügel, steht das Mahnmal, extra für die deutsch-polnische Delegation einen Tag zuvor von drei Arbeitern gesäubert. Damals war dort der jüdische Friedhof, Schauplatz von Massenexkutionen. Heute sieht man noch vereinzelte Grabsteine, halb verfallen, überwuchert von Gras und Büschen.

Nach drei Stunden ist der offizielle Augenschein vorbei. Der Vorsitzende Richter Manger ist zufrieden: „Die Angaben der Zeugen haben sich als zuverlässig erwiesen. Das konnte man nach 46 Jahren nicht mehr erwarten.“ Wagners Verteidiger Schußmann kann mit dem Ergebnis nicht zufrieden sein. Er gab von Anfang an unumwunden zu, „an der Aufklärung jener Ereignisse kein Interesse zu haben“. Der polnische Historiker Wolosik sagt dagegen über die Vergangenheit nach Durchsicht der Tagebuchaufzeichnungen: „Jetzt, wo ich sie durchsehe, kommt mir all das sehr weit vor, wie im Nebel, fast unglaublich. Jedoch das ist die Wahrheit, eine schreckliche Wahrheit.“