Deutsche Fragen - offene Wunden

■ Vom Genialischen Jungen Mann und seiner Programmatisch Modernen Schwester-Mutter

Pieke Biermann

Womöglich ist die taz die einzige hiesige Zeitung, die ihre Leserschaft in eine buchstäblich körperliche Beziehung zu verstricken vermag: Womöglich sind taz-LeserInnen 'Spiegel' -LeserInnen, die ihren Stoff brauchen, damit der Adrenalinspiegel stimmt.

Immer wieder stehen in der taz Beiträge, die nirgends anders erscheinen könnten, die AutorInnen vorstellen, die nirgends anders eine Chance hätten, die von Ereignissen und Zusammenhängen berichten, die anderswo verschwiegen werden, die stilistisch/sprachlich aufregend Neues bieten.

Häufiger liefert die taz (auch und gerade im Feuilleton, aber auch auf den Frauenseiten - zu beiden habe ich dank meines Geschlechts und aufgrund meines Berufs die strengste Beziehung) Adrenalinschübe wegen Zorn. Wenn zum x-ten Mal unbefangen von „Negern“ und verklemmt-floskelhaft von „jüdischen Mitbürgern“ die Rede ist; wenn Wörter wie „Pogrom“ oder „Auschwitz“ (die ZeitungsmacherInnen in Redaktion und Technik schlicht nicht unbekannt sein dürften) falsch geschrieben und politische Minderheiten (wie etwa Huren oder Lesben oder Schwule) in gönnerhafter oder offen verächtlicher Manier niedergemacht werden.

Das ist Politik mit sprachlichen Mitteln. Die sich selbst tabuisierenden TabubrecherInnen

Am 17. Oktober 1988 erschienen in derselben Ausgabe der taz zwei Beiträge eines freien Mitarbeiters, der seine Identität hinter einem Kürzel verbarg. Es war womöglich diese Doppelung, die den Adrenalin-Flash einiger Leute außerhalb der taz ins Unerträgliche steigerte, weshalb sie Protestbriefe schrieben und in anderen Medien protestierten. Das Kürzel hatte in einer Disco-Kritik das Adjektiv „gaskammervoll“ in die Zeilen gerotzt und es in einer Fernseh-Kritik für richtig und wichtig gehalten, Kunstkennern und -sammlern einen verbalen Judenstern anzuheften, um einen hiesigen Maler zu diskreditieren.

Allzuoft passiert derartiges einzeln in der taz.

Bei der ersten Redaktionsdiskussion, zu der ich eingeladen war, passierte die nächste Doppelung. Die für den Abdruck beider Kürzel-Beiträge verantwortlichen Redakteurinnen verstärkten den Skandal dadurch, daß sie nicht nur keinerlei Irritation darüber empfanden, sondern im Gegenteil flugs ein ganzes Legitimationssystem erfanden, aufgrund dessen der Kürzel-Autor (und sie mit ihm) zum wahren Freiheitskämpfer und zum eigentlichen Opfer aufgeblasen werden konnten. Das Stichwort hieß: Tabus müssen verletzt, Grenzen müssen überschritten, die Sprachverregelung muß durch brutale Enthüllungen kenntlich gemacht und zerstört werden.

Das enthält eine noch zweite Verdoppelung. Dieses Verleugnen, daß man etwas getan hat, durch Bagatellisierung („Wir lachen doch alle gern mal über Judenwitze!“) und gleichzeitig Sich-Selbst-Hochstilisieren als wahres Opfer -, es ist uns allen bis zum Überdruß bekannt von der Generation der Nazi-TäterInnen und MitläuferInnen. Es geht immer einher mit einer erschreckenden Gefühllosigkeit und Kälte gegenüber denen, denen etwas angetan wurde, und einer an Gefühlskitsch grenzenden Sensibilität gegenüber den Kratzern, die man sich selbst in der Auseinandersetzung über die eigenen Taten einhandelt.

So auch hier. Und so entstand das Schlagwort vom „stalinistischen Zentralismus der übelsten Sorte“, vom „Schreibverbot“, von den „Köpfen“, die angeblich „rollen“ sollten. Die Haltung der TäterInnen beschränkte sich im folgenden darauf, jede Beschämung oder auch nur Bestürzung über den antisemitischen Konsens, in dem sie handelten, abzublocken.

Hier liegt die dritte Doppelung: Der Kürzel-Autor benutzt ein ganz bestimmtes „Tabu“, und gleich zweimal, und ich bin sicher, er tut das aus einem einzigen Grund: Er weiß ganz genau, daß er damit am ehesten seinen Namen über die taz hinaus bekannt macht. Er treibt mit dem Entsetzen (in diesem Fall dem nationalsozialistischen Terror der Vernichtungslager) Scherz, er plündert kalt und berechnend die Leidensgeschichte anderer Leute, um sich selbst zu bereichern: Publicity. Seine VerteidigerInnen kehren seine Tat um und erklären ihn zum Opfer eines anderen Terrorregimes, der stalinistischen Säuberungen, was wiederum die Opfer jenes Terrors beleidigt durch Plünderung. Die ganze Zeit und systematisch werden die realen Opfer mißbraucht für eigene Zwecke, also nochmal vernichtet.

Das ist unerträglich, nicht weil es irgendeinen „zur Heuchelei erstarrten“ oder gar „Oggersheimer Antifaschismus“ aufkündigt, sondern weil es der programmatische Verzicht auf Menschlichkeit ist. System - eine Kurzbilanz jahrelanger Lektüre

(Nicht nur) mir sind die Seiten zweier Ressorts ständiger Quell von Ärger und Zorn: Die Frauenredaktion und die (überregionale wie die Berliner) Kulturredaktionen. Und das nicht aus zufälligen biographischen Gründen (Geschlecht und Beruf). Tatsächlich verkörpern beide radikale politische Aufträge - nach allem, was wir heute wissen, ist der Feminismus die Bewegung, die Utopie, die Idee, wie sich diese „unsere“ Welt in eine grundsätzlich andere lebenswerte, menschliche Realität umwandeln ließe allerdings nur, wenn er endlich anfängt, Sexismus und Rassismus zusammenzudenken: als zwei Methoden derselben gewalttätigen Spaltung.

Die Kultur dagegen lebt mit einem Auftrag, der sich aus einem Dilemma ergibt. Sie ist eine gesellschaftlich sanktionierte Spielwiese, ein Frei-Raum; die Freiheit, die gewünscht wird, ist eine beschränkte: Narrenfreiheit. Wenn man dieses Dilemma tatsächlich politisch-radikal benutzen will, gibt es nur eine Chance. Man muß die Spielwiese subversiv und effektiv ausbauen zu einem Ort, an dem in mühe - und liebevoller Kleinarbeit Lunten gedreht, Zündfunken geschlagen, Bewegung und Reibung erzeugt und in Gang gehalten wird.

Selten findet sich etwas davon auf den Frauen- und auf den Kulturseiten. Statt dessen auf beiden Erstarrung und Pose. Ein schreiender Mangel an Radikalität und Professionalität, an Mut zum Querdenken und -schreiben, an tatsächlichem Risiko.

Die Frauenseiten scheinen täglich neu (ich verkürze und übertreibe mutwillig, mich interessiert das Schema F, das dahintersteckt) die Attitüde des Klageweibs einzustudieren, das Feuilleton gefällt sich in der Pose des genialischen jungen Mannes, der seine Pubertät bis in alle Ewigkeit verlängern möchte. Er hält sich für den Erfinder des „anything goes“ und letzteres für eine erlösende Weltformel. Es ist die alte messianische Attitüde, die nach Anbetung kreischt.

Und noch etwas ist nicht neu. Im Mittelpunkt steht noch immer der ewige Sohn und hält seine Meßlatte hoch. Gehätschelt von einer anderen Figurine aus dem Fundus der (Kultur-)Geschichte: Von der Pogrammatisch Modernen Jungen Frau, die jenes Risiko namens Feminismus erklärtermaßen scheut.

Und noch etwas erscheint wie eine Ironie des Schicksals. Ausgerechnet in der genialischen Nische feiert ein früh -feministisches Credo fröhliche Urständ, nachdem es zuvor in Frauenkreisen systematisch zum undialektischen Automatismus heruntergewirtschaftet worden war: „Das Persönliche ist politisch.“ Ergebnis: Die Kulturseiten sind voll von Beiträgen, in denen die Leserschaft lang und breit über die derzeitige „persönliche“ Be- und Empfindlichkeit der Schreibenden, aber kaum über den Gegenstand des Schreibens informiert wird, zum Beispiel das Buch, Konzert, Theaterstück, Festival, die Ausstellung, den Film, die da vorgeblich besprochen werden. Genial ist daran nur eins: Die Verwandlung eines seriell-libidinösen Ausdrückens von Pickeln vor Publikum in Textzeilen. Was dabei entsteht, könnte man als Akne-Prosa bezeichnen. Die Leserschaft wird hinterrücks zum Voyeur beständiger Selbstbespiegelung, peinlich berührt ob der Intimitäten, die ihr da aufs Auge gedrückt werden, oder achselzuckend gelangweilt. Noch eine Doppelung

Kurz nachdem bei der ersten Redaktionssitzung der taz über die historische und sprachliche Verantwortung von ZeitungsredakteurInnen diskutiert worden war, bei der die Kritisierten zunächst darauf kaprizierten, ein vermeintliches Verbot von „schlimmen Wörtern“ lächerlich zu machen, ereignete sich etwas Zweites. Ein Bundestagspräsident hielt eine Rede. Auch hier wurde - und sogar von den Kritisierenden - die Diskussion auf die Ebene von „schlimmen Wörtern“ (bzw. fehlender Distanzierung durch akustische Gänsefüßchen) heruntergewirtschaftet, was den Bundestagspräsidenten dazu legitimierte, sich selbst als Opfer von Verhältnissen zu stilisieren: Man dürfe wohl in Deutschland bestimmte Dinge nicht sagen.

Das tatsächlich Unerträgliche an seiner Rede war aber keineswegs irgendeine mangelnde rhetorische Fähigkeit. Im Gegenteil - die falsche Debatte darüber verbarg systematisch, was in der Tat nicht ertragen werden darf in diesem Land und was keinerlei rhetorische Zweideutigkeit aufwies. Der Bundestagspräsident hatte seine Rede mit den Worten begonnen: „Die Juden in Deutschland und in aller Welt gedenken heute der Ereignisse vor 50 Jahren. Auch wir Deutschen erinnern uns ...“

Er hat ganz unmißverständlich den einen den gelben Stern wieder angeheftet und für die anderen den arischen Nachweis reklamiert. Das war bisher nicht Gegenstand der öffentlichen Debatte, auch nicht in der taz - trotz eines zeitgleichen Klärungsprozesses zum selben Thema.

In jenen Eingangsätzen verät sich der gewöhnliche Antisemitismus/Rassismus nicht nur dieses Repräsentanten einer angelich so anderen, demokratischen deutschen Gesellschaft; so empfinden das vermutlich auch die meisten BundesbürgerInnen: Sie gehen aus von einer elementaren Spaltung in „meinesgleichen“ und „die anderen“, in der unbemerkt Macht und Wert der einen und Ohnmacht und Unwert der anderen festgelegt werden. Heinrich Lübkes „meine Damen und Herren, liebe Neger“ entstammt derselben Quelle. Aber genau hier, in diesem System, Spaltung und Machtbeziehungen auch noch im alltäglich Winzigen permanent neu zu bestätigen, liegt die Verbindung zwischen Rassismus und Sexismus.

Konsequenzen

Die beiden verantwortlichen, aber Verantwortung verweigernden Redakteurinnen werden mit unmißverständlicher Mehrheit entlassen.

Interessant an der Plenumsdiskussion war zweierlei, etwas, das nicht angesprochen wurde, und etwas, das sowohl ausgesprochen wie zwischen den Sätzen der Diskussion eine Rolle gespielt hat. Niemand aus der taz hat erwähnt, daß es zwischen den RedakteurInnen und freien SchreiberInnen, die die Provokation namens „gaskammervoll“ für nötig befanden und weiterhin legitimieren, und denen, die vor nicht langer Zeit richtig fanden, eine „Porno-Seite“ zu produzieren, innige Beziehungen gibt bzw. daß sie teilweise identisch sind. Niemand von der taz hat diese Tatsache als Material zum Nachdenken genommen. Das ist fatal, denn es ist eine verpaßte Chance.

Explizit eingebracht wurde dagegen eine andere vermeintliche Doppelung. Die Sprengkraft des ganzen Konflikts, so behauptete jemand, ergebe sich daraus, daß das Problem Antisemitismus aufgeladen worden sei durch interne Spannungen innerhalb der taz aus ganz anderen Gründen. Die antisemitische Provokation sei folglich bloß als symbolische von Bedeutung. Und jemand anders läßt ahnen, daß er - wenn es sich nicht gerade um Antisemitisches gehandelt hätte - gegen eine Entlassung gestimmt hätte.

Beide Positionen sind der Versuch, wieder abzulenken. Die eine, indem sie Entlassung gleichsetzt mit Entlastung: „Wir trennen uns jetzt sauber von den Antisemiten, und dann kommen wir endlich zum 'Eigentlichen‘.“ Die andere macht aus vermeintlich Philosemitismus - das antisemitische Potential nur wieder neu zum Tabu, diesmal mit „positivem Vorzeichen“. Beide Positionen schaffen einen legitimierenden Unterboden für jeden Versuch - und er wird kommen, pünktlich wie im Fall des Bundestagspräsidenten! -, die ganze Affäre umzuschreiben zu einem Szenarium, an dem letzten Endes „die Juden wieder schuld“ sind. Beide Positionen sind der schiere Antisemitismus.

Die beiden Redakteurinnen sind auch mit den Stimmen derer, die bewußt oder unbewußt diese Position einnehmen, entlassen worden, ihre VerteidigerInnen damit argumentatorisch/moralisch niedergestimmt worden. Es gibt aber keine Entlastung, es gibt keine Garantie für die eigene Unbeflecktheit. Die Splitter des alltäglichen Antisemitismus/Rassismus/Sexismus stecken in uns allen ihre Zerstörung beginnt mit dem Verzicht auf Persilscheine, d.h. mit der alltäglichen eigenen Verantwortung.

Es bleibt abzuwarten, ob es gelingt, das Material, das die Diskussion hervorgebracht hat, tatsächlich zur politischen Radikalisierung zu nutzen. Ob es, mit anderen Worten, gelingt, Antisemitismus mit Rassismus und Sexismus zusammenzudenken, ohne die Opfer des einen im Umgang mit dem anderen jeweils zu verleugnen und zu vernichten; ob die taz

-auf Frauenseiten wie überall sonst - wirklich eine unkorrumpierbare, verantwortungsvolle und risikofreudige antirassistische und antisexistische Haltung publik macht. Stichwort Zündfunken... Erst dann hat sie eine tatsächliche moralische Legitimation, auf die Rassismen und Sexismen anderer aggressiv zu reagieren.