„Zu Weihnachten kochen die Emotionen hoch“

In Hessen stehen rund 40 Menschen vor der Abschiebung, die allesamt seit etlichen Jahren in der Bundesrepublik leben / Besonders betroffen sind Kinder und Jugendliche, für die ihre angebliche Heimat nur Ausland ist / Behörden wollen stur bleiben und schieben das Engagement kirchlicher und sozialer Gruppen auf den vorweihnachtlichen Gefühlsstau  ■  Aus Frankfurt Marion Scherpf

Die 16jährige Türkin Dilek Yener ist in der Bundesrepublik aufgewachsen. Die Türkei hat sie seit zehn Jahren nicht gesehen, sie kennt dort niemanden. Ihre FreundInnen sprechen deutsch - wie sie. Folglich fühlt sich Dilek in der Bundesrepublik nicht als Ausländerin. Ausland, das ist für sie zum Beispiel die Türkei. Dorthin sollen sie und ihre Familie abgeschoben werden. So haben es die Gerichte entschieden, die alle Anträge der Eltern abgelehnt haben. Die Familie Yener ist eine von acht Familien, denen eine Ausweisung droht und die derzeit um eine weitere Aufenthaltsgenehmigung aus humanitären Gründen bitten. Dazu sagte ein Sprecher des hessischen Innenministers Milde (CDU): „Natürlich gibt es humanitäre Aspekte, aber der Staat kann sich nicht über die Gesetze hinwegsetzen.“

Kann er doch, behaupten alle jene, die sich für die rund 40 in Hessen von der Abschiebung bedrohten Menschen aus der Türkei, dem Iran, dem Irak, Indien, Pakistan und Bangladesch einsetzen. „Wenn Milde behauptet, es gebe für Politiker keinen Handlungsspielraum“, so die grüne Landtagsabgeordnete Daniela Wagner-Pätzold, „dann ist das auch aus juristischer Sicht falsch. Das Ausländergesetz zwingt nicht zum Vollzug.“ „Warum also die Abschiebung von Menschen, die inzwischen acht Jahre und länger in der Bundesrepublik leben, deren Kinder die Sprache ihrer „Heimat„-Länder kaum oder gar nicht sprechen, die sich hier eingelebt und angepaßt haben, hier arbeiten und hier ihre Freunde haben?

Nachfragen ergeben Erklärungen wie diese: „Ich kann einem Beamten nicht einen unbestimmten Begriff der Menschlichkeit an die Hand geben. Eine Behörde ist in einem Rechtsstaat daran gebunden, daß sie Gesetze auszuführen hat.“ So formuliert es Dr.Bernward Löwenberg, Landrat des Main-Taunus -Kreises und zuständig für die Ausländerbehörde. Löwenberg ist zwar, wie er betont, nicht zuständig für die neun Familien, über deren Abschiebung der Petitionsausschuß entschieden hat. Die ihm unterstehende Ausländerbehörde hat aber erst Mitte November den Inder Kashmir Sikh abgeschoben, der seit sechs Jahren in der Bundesrepublik lebte. Sikh konnte ein ärztliches Gutachten vorlegen, in dem ein Psychiater ihm bescheinigte, „daß eine dringende nervenärztliche Behandlung notwendig ist“. Löwenberg findet das Gutachten in sich widersprüchlich, er sah keinen Grund, der ärztlichen Empfehlung zu folgen und Sikh zumindest so lange hier zu dulden, bis die ärztliche Behandlung abgeschlossen wäre.

Löwenberg ficht weder das starke Engagement kirchlicher Gruppen an noch ein Stoß von Fürsprachebriefen - und schon gar nicht die Unterschriftenaktion der 'Frankfurter Rundschau‘, in der die LeserInnen der Zeitung ihn bitten, „bei der Entscheidung über Ausländer und Flüchtlinge alle Gesetze zu beachten, auch die der Menschlichkeit“. Löwenberg: „Zu Weihnachten kochen alle Jahre wieder die Emotionen hoch.“

Die vorweihnachtliche Stimmung der Wähler und das daraus resultierende Engagement für die Asylsuchenden mögen eine Rolle gespielt haben, als Hans-Jürgen Hielscher, einziger FDP-Abgeordneter im hessischen Petitionsausschuß, sich entschloß, sein negatives Votum zurückzunehmen. Im Petitionsausschuß entfallen zehn Sitze auf die CDU, acht auf die SPD und zwei auf die Grünen - Hielschers Entschluß genügte also, um die CDU/FDP-Mehrheit zu kippen. Anfang Februar will das Parlament nun über das Schicksal der neun betroffenen Familien neu debattieren und entscheiden.

Bis dahin haben alle, die sich für den Verbleib der Familien stark machen, Zeit, auf die Politiker einzuwirken. Detlef Lüderwaldt vom „Initiativausschuß Ausländische Mitbürger in Hessen“ ist einer von ihnen. Auf einer Solidaritätsveranstaltung am Donnerstag in Frankfurt, an der auch sechs der neun von der Abschiebung bedrohten Familien teilnahmen, zitierte er Bert Brecht aus den Flüchtlingsgesprächen: „Der Paß ist der edelste Teil von einem Menschen. Er kommt auch nicht auf so einfache Weise zustande wie ein Mensch (...) Dafür wird der Paß auch anerkannt, wenn er gut ist (...) während ein Mensch noch so gut sein kann und doch nicht anerkannt wird.“ Lüderwaldt erinnerte an den Ausspruch des hessischen Ministerpräsidenten Wallmann: „Hessen soll ein kinderfreundliches Land sein“ und fragte, ob das nur für Kinder mit deutschen Pässen gelte. Für die Kinder sei es besonders schlimm, wenn sie ausgewiesen würden. Viele von ihnen stehen kurz vor dem Schulabschluß.

Der 15jährige Noman Akthar beispielsweise geht seit Jahren in Rödermark zur Schule. Um gegen seine Abschiebung zu protestieren, sammelten seine MitschülerInnen über 1.000 Unterschriften. Der Schulelternbeirat setzt sich für ihn ein und auch der Bürgermeister, ein CDU-Mitglied. „Warum“, so fragte auf einer öffentlichen Veranstaltung ein Vertreter des Diakonischen Werkes, „soll nicht auch in Hessen möglich sein, was in Berlin schon praktiziert wird?“ (Dort gibt es eine „Altfall-Regelung“, derzufolge alle Asylbewerber, die seit 1981 und länger in Berlin leben, bleiben dürfen, auch wenn ihr Asylantrag abgelehnt wurde.) Daniela Wagner-Pätzold hatte dafür eine Erklärung: „Das geplante neue Ausländergesetz macht deutlich, daß es der Wille konservativer Politiker ist, Deutschland wieder allein den Deutschen zu überlassen (...) Wir sollten aber zur Kenntnis nehmen, daß die Bundesrepublik ein Einwanderungsland ist.“

Viel Beifall erhielt ein Sprecher des VVN Bund der Antifaschisten, der an die besondere Verantwortung der Deutschen gegenüber Asylsuchenden aus aller Welt erinnerte: „Es gab eine Million Deutsche, die dasselbe Schicksal erlitten wie jetzt die Asylsuchenden. Diejenigen, die nach der Zeit des Nationalsozialismus zurückgekehrt sind, haben dafür gesorgt, daß das Asylrecht ins Grundgesetz kommt.“