Vom Nachttisch geräumt: MANN

Als siebzehnjähriger hatte der Schweizer Georges Motschan 1937 seinem Idol Thomas Mann einen Huldigungsbrief geschrieben. Der antwortete, lud ihn ein, war sichtlich angetan von dem jungen Mann, und man sah sich öfter. Dann verließ Thomas Mann die Schweiz, ging in die USA. Motschan besuchte seinen Lieblingsautor auch dort, und als nach dem Krieg im Goethejahr 1949 Thomas Mann in Frankfurt und Weimar Vorträge halten und bei dieser Gelegenheit das erste Mal wieder nach Deutschland kommen sollte/wollte, da bot der alte junge Bekannte sich und sein Auto - einen riesigen, extrem bequemen Buick - an, das Ehepaar Mann durch Nachkriegdsdeutschland zu chauffieren. Georges Motschan hat jetzt einen Bericht über diese Fahrt vorgelegt. Eine sehr erheiternde Lektüre. Mehr noch als die zahlreichen Mann -Anekdoten amüsiert die unfreiwillige Komik des Autors Motschan. Er liebt die Mannschen Perioden und hinkt ihnen nach. Seitenweise liest sich sein Buch wie eine raffinierte Thomas Mann-Parodie. Da ist zum Beispiel die Passage über sein erstes Gespräch mit dem Meister - „nehmen wir doch gleich hier auf dem Sofa nebeneinander Platz“ - und seine Versuche, die Mannschen Lektüren, die in die „Buddenbrooks“ einfloßen, nachzuvollziehen: eine Periode, die nach dreiunddreißig Zeilen mit einem kunstvollen „schloß ich“ etwas unsicher freilich auf den Punkt gebracht wird. Ein Heiligenbildchen also. Die vorbehaltlose Schwärmerei, die naive Huldigung ist freilich nicht ohne Charme. Mir jedenfalls ist ein Thomas Mann anhimmelnder Herr von achtundsechzig Jahren lieber als die fünfundzwanzigjährigen Superblasierten, die in kleinen Grüppchen mit zierlichen Gläsern in den Händen in den Kneipen und bei Vernissagen herumstehen und so tun, als steckten sie die ganze Welt in die Tasche. Hinzu kommen kleine Szenen, die ein bezeichnendes Licht auf Nachkriegsdeutschland und seine euphemistisch „funktionell“ genannten Eliten werfen. Zum Beispiel diese: Nach der Goetherede in der Frankfurter Paulskirche fuhr man ins Gästehaus der Stadt Frankfurt nach Kronberg. „Da fragte mich Thomas Mann unter vier Augen nur: 'Was glauben Sie, junger Schweizer-Freund, wieviel Blut wohl an all‘ den Händen klebt, die ich heute habe drücken müssen, wieviel?‘ Die Vorstellung der blutverklebten Hände sollte Thomas Mann, ich kann es bezeugen, noch während all‘ der Tage, die er in deutschen Landen zu verbringen hatte, verfolgen. Thomas Mann und Frau Katja zogen sich in ihre Gastgemächer zurück, es galt, sich auf den Abend fürs große offizielle Bankett vorzubereiten und zu rüsten. Dieses fand wiederum in kleinem Rahmen statt, erschienen waren, wie konnte es anders sein, gut und gerne gegen einhundert Personen. Thomas Mann war sichtlich erschöpft, sorgte denn auch für frühzeitigen Aufbruch, was die vielen geladenen Gäste nur zu begrüßen schienen. Kaum war auch Oberbürgermeister Dr.Kolb mit engstem Gefolge ebenfalls gegangen, da ging es erst recht los. Aus purer Neugierde bin ich geblieben, fest entschlossen, als Allerletzter erst mein im obersten Stock gelegenes, bescheidenes Gästezimmer aufzusuchen. Nie habe ich Ähnliches wieder erlebt. Die meist älteren Semester, die noch ausharrten, deren gute fünfzig an der Zahl, ergaben sich dem Trunke, ungehemmt, denn es war ja alles vorhanden, gratis vorhanden, vom Bier bis zum Sekt, vom Schnaps zum Cognac, von allerfeinsten und französischen Likören en masse, Gänseleber und Hummer, alles war da und mußte verzehrt, getrunken werden, nichts Eß- und Trinkbares, so schien es, durfte übrig bleiben; die deutsche Freßwelle feierte Urstände, und das Gelage dauerte denn auch bis in die tiefe Nacht, als zur Krönung auch noch gesungen wurde, wenn man denn das Gegröle als Gesang bezeichnen durfte, nazistische Lieder übelster Art ertönten, man fuhr singenderweise gegen Engeland, kannte in Polen ein nicht küssen wollendes Mädchen, begrölte eine brau-, brau-, braune Haselnuß, alles, was man wenige Jahre zuvor marschierenderweise und auch auf Befehl in fremden Ländern gesungen haben mochte, mußte herhalten, und hätten nicht einige Besonnere, auf meine fremde Präsenz hinweisend, mäßigend Einfluß genommen, Horst Wessels „Die Fahne hoch“ wäre nicht nur angetönt geblieben, sondern aus voller Kehle durchgesungen, durchgegrölt worden.“

Georges Motschan, Thomas Mann von nahem erlebt, Verlag der Buchhandlung Matussek, Nettetal, 151 Seiten, 13 s/w Fotos, 48 DM