„Wir haben ihn gegessen und er hat uns nicht geschmeckt“

■ „Die Kannibalen“ - der neue Film von Manoel de Oliveira

Eine Kette glänzender Luxusautomobile zieht sich nach und nach vor der blau-violett erleuchteten Fassade eines Palastes entlang. Am Portal angekommen, geben die modernen Gehäuse, vom Rolls-Royce bis zum Zweisitzer, Personen in der Kleidung des frühen 19.Jahrhunderts frei. Man sieht das Eintreffen der Gäste zu einem Ball der höheren Gesellschaft, der in der Folge durchweg in ungebrochenem Gepräge des Rokoko sich abspielt, und doch steht man von Beginn an in dauernder Erwartung eines grellen zeitlichen Bruchs oder eines verdeckten Anachronismus. Die vollendete Oberfläche schärft den Sinn für mögliche Abschweifungen und Durchsichtigkeiten. Die Hauptakteure der Geschichte wenden sich für einen kurzen Moment einer auf Distanz gehaltenen, ausgegrenzten Menge von Schaulustigen zu, die jedem selbstgefälligen Auftritt applaudiert. Die Eingangsszene verdeutlicht etwas vom Aufbau des Films: Die entfernt sichtbaren Menschen repräsentieren mit ihrer Neugier, die vorfahrende Gesellschaft einmal zu Gesicht zu bekommen, den Blick eines Zuschauers und Zeugen - und auch den heutigen Blick auf das inszenierte historische Geschehen - ähnlich wie die Gäste in der folgenden Handlung. Nur gibt es in den geschmückten Sälen keine weitere, innere Bühnenaufführung als die Gebärden, Blicke und Handlungen der Gäste selbst, von denen die Bedeutenden anfangs vorgestellt werden. Einer scheint dem anderen Zentrum der Fiktion und Teil einer Inszenierung zu sein.

Das mit Bestreben nach Perfektion gestaltete Dekor bewirkt, scheinbar aus sich selbst, seinem eigenen Glanz, dem (Kerzen -)Licht jener Epoche, heraus, tatsächlich jedoch durch den Kunstgriff der Einführung, daß eine von den Tableaus ausgehende Ernsthaftigkeit provisorisch erscheint und die Kostümierung in jedem Moment aufhebbar.

Der Film basiert auf einer Oper und ist durchweg gesungen, der Stoff geht auf eine portugiesische Geschichte aus dem 19.Jahrhundert zurück. Zwischen den Akten treten ein Sänger und ein Violinist als Erzähler auf, zu Beginn zu Motiven Paganinis. „Marguerite ist eine femme fatale. Ihre unwiderstehliche Leidenschaftlichkeit macht sie so anziehend“, hört man eingangs von dem Erzähler, der abseits des festlichen Geschehens auftritt oder allein in Szene gesetzt ist. „Diese Geschichte ist eine Verehrerin des blauen Blutes, sie liebt die Aristokratie. Wer mir gut zuhört, wird mit mir die höhere Gesellschaft durchstreifen, in der man singt, anstatt zu sprechen. Ich werde ihn auf Bälle und Feste führen. Ich werde sein Interesse für Mysterien, für die Liebe und für Eifersüchte wecken; kurz, für die Dinge, von denen die Gesellschaftsromane überquellen.“ Das adlige Mädchen, blaß, fast durchsichtig gemäß dem Schönheitsideal jener Zeit - verliebt sich in den leicht angegrauten und zutiefst melancholischen Vicomte d'Aveleda, einen reichen Grafen, der jenes Mysterium in sich trägt, das er erst in der Hochzeitsnacht eröffnen wird. Sie besingen ihre Leidenschaften, ihre Zweifel, und Don Juan, der eifersüchtige Nebenbuhler des Grafen, kündigt tödliche Rache für die Zurückweisung seiner Gefühle an.

Das Drama naturhaft erscheinender Passion muß seinen Lauf nehmen - je klarer diese Erwartung ist, desto erschreckender trifft die Wendung in der Hochzeitsnacht: Der Vicomte zeigt sich mit einem Mal als eine Verbindung aus Mensch und Maschine, seine Gliedmaßen bilden Prothesen, die er plötzlich, nach allen vorangegangenen Liebesversicherungen seiner Braut, von sich abfallen läßt - ein lebender Torso. Als Marguerite vom Grauen überwältigt aus dem Saal flüchtet, wirft er sich in das Kaminfeuer. Don Juan hatte das Paar von draußen durch die Vorhänge beobachtet. Mit seinen Mordabsichten kommt er zu spät, wird nur noch Zeuge der Überreste des Grafen.

Das Grauen, wie ein 'Schritt vom Wege‘, wie ein Blick in eine immer verschlossene Kammer - mit ihm hat sich ein Bruch in der Geschichtsart, in der Tradition vollzogen. Am Morgen, da es Zeit geworden ist, schaut der fidele Vater der Braut nach dem Paar. Was er da angebrannt auf dem Kamin erblickt, hält er für einen Beweis der Exzentrizität seines Schwiegersohnes: einen Braten, den dieser sich bereits zum Frühstück habe kommen lassen. Zusammen mit seinen beiden Söhnen will ihn der Vater verspeisen, doch schmeckt er ihnen nicht besonders, und auch die Anatomie des Bratens kommt ihnen unbekannt vor. Dann findet man die Tochter tot im Garten liegen; sie hat sich umgebracht, und Don Juan, der an ihrer Seite sterben wollte und schwer verwundet neben ihr liegt, berichtet, was sich ereignet hat.

Im Chor: „Wir haben ihn gegessen, und er hat uns nicht geschmeckt.“ Nach Fassungslosigkeit und Ekel kommt man zur Besinnung und beginnt zu kalkulieren, denn die Familie der Braut hat gute Aussichten auf das Erbe des Vicomte. 'Spielregeln‘ sind einzuhalten.

Keine Gefühle mehr, die gesungen werden - jetzt geht es ums Geld. Und auf einmal hat sich der Vater als Schwein kostümiert, über dem wie aufgeschnittener Schwartenbauch noch das weiße Spitzentuch hängt, während die beiden anderen in Hunde verwandelt werden. Ein wilder Tanz durch den Garten beginnt, zusammen mit allen Dienstleuten und Domestiken, dem Pfarrer, dem Gärtner, der Kammerzofe. Bis sie am Ende alle ihre scharfen Vampirgebisse blecken.

Aus der dramatischen Handlung der Oper gleitet der Film hinüber zur Farce. Wendungen und Brüche, Übertreibungen und drastische Metaphern stehen im Zeichen des Surrealismus; Verwandlungen von leidenschaftlichem Gefühl in Getriebenheit, von honorigem Reichtum in irrsinnige Besitzgier, man empfindet sie wie einen Wechsel zwischen Angst und Auflachen, Amüsement und schließlich doch einem nachträglichen Fortwirken der Sinnbilder. Sie gemahnen an die Grausamkeit und Wildheit der bürgerlichen Welt. - „Ist's eine Komödie? Ist's eine Tragödie?“ (Thomas Bernhard) Im Film zeigt sich das alles auf verrückte Weise miteinander verknüpft. Mit Die Kannibalen erinnert Manoel de Oliveira an die frühen Qualitäten des Kinos.

Jörg Becker