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Unter dem Pflaster ein Abgrund

Innerdeutscher Handel mit Pflastersteinen: VEB Lausitzer Granit liefert Argumente für Hamburgs Autonome / Devisennot oder bewußte Subversion? / Volkseigene Arbeiter haben Schnauze voll  ■  Aus Hamburg Kai Fabig

Rathausmarkt, 17.November 1988, Demonstranten kratzen Dreck aus Fugen und schleudern die so gewonnenen, würfelförmigen Argumente der Staatsmacht entgegen. Von der norddeutschen Tiefebene bis ins hügelige Sachsen - soweit kann selbst der durchtrainierteste Autonome einen Pflasterstein nicht werfen. Bischheim-Häslich: Täglich zerreißt lautes Krachen die Stille über der 450-Seelen-Gemeinde. Trotzdem haben diese Ereignisse nur scheinbar nichts miteinander zu tun.

Denn ein Hamburger Pflasterstein ist nur insofern ein Hamburger Pflasterstein als er in Hamburg liegt oder fliegt. Geht man den Dingen jedoch auf den Grund, so kommt nicht der versprochene Strand zum Vorschein, sondern ein Abgrund tut sich auf. Dieser besteht zum einen in einem riesigen Loch bei Bischof-Häslich, zum anderen in einem bisher völlig vernachlässigten Aspekt des innerdeutschen Handels.

Das Loch ist volkseigen und heißt, mit dem, was drumherum ist, VEB Lausitzer Granit-Werk. Der in diesem Steinbruch gewonnene Granit wird zu einem großen Teil zu Pflastersteinen verarbeitet. Dies wäre nicht weiter problematisch, wenn damit DDR-Straßen gepflastert würden. Dem ist aber nicht so. Statt dessen werden die Granitbrocken in den Westen geliefert - hauptsächlich nach Hamburg.

Angesichts der Arbeitsbedingungen ist allerdings kaum vorstellbar, daß es hier nur um schnöden Mammon geht. Es darf wohl als böswillige Unterstellung gelten, daß die DDR -Wirtschaftsführung nicht Höheres im Sinne hätte, wenn sie ihre Werktätigen der Gefahr von Staublungen und Gehörschäden aussetzt. So kann es eigentlich nur um die destabilisierende Wirkung gehen, die Pflastersteine in den Händen bestimmter Gruppen haben, wenn der klassischen Sträflingsarbeit kein Ende bereitet wird. Bei der Hamburg-Bischheim-Häslich -Connection scheint die ehemals sozialdemokratische Losung „Wandel durch Handel“ eine völlig neue Bedeutung zu gewinnen. Doch droht dem wohlüberlegten Kalkül, soziale Konflikte in westdeutschen Großstädten durch massive Pflastersteinlieferungen anzuheizen, von zwei Seiten Gefahr. Zur Zeit ist von den vier Arbeitsplätzen in der direkten Pflastersteinproduktion nur einer besetzt.

Allein und trotz einer kürzlich eingebauten Absauganlage von weißem Staub bedeckt sitzt Steffen, ein junger Arbeiter, in der offenen unbeheizten Halle. Mit der rechten Hand zieht er etwa 25 Kilogramm schwere Granitblöcke unter die volkseigene Maschine, die sie dann zu lautem Krachen zu Pflastersteinen bricht. Steffen produziert kaum Bruch und verdient den für DDR-Verhältnisse sehr hohen Lohn von fast 2.000 Mark im Monat. Trotzdem will er nicht mehr 43 3/4 Stunden pro Woche mit 18 Tagen Urlaubsunterbrechung im Jahr hier sitzen. Nur die Überredungskünste des Leiters der Betriebsgewerkschaft haben ihn noch an diesem Arbeitsplatz gehalten. Aber bald, so sagt er, sei für ihn endgültig Schluß.

Die andere Gefahr droht in Hamburg. Denn nach diesem Bericht dürfte sich die Boykottliste der Hafenstraße eigentlich nicht mehr auf Israels „Waren, Strände, Kibuzzim“ beschränken. Eine Erweiterung um die Produkte des VEB Lausitzer Granit ist nun geradezu ein Gebot der internationalen Solidarität, selbst wenn die Suche nach Ersatzstoffen beschwerlich werden sollte. Vielleicht würden dann auch die Aussagen eines Granit-Arbeiters etwas moderater ausfallen. Dieser hatte nämlich gefordert: „Die Leute von der Hafenstraße müßt ihr alle einsacken und hierher schicken. Das wäre die größte Strafe.“

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