„Wenn man das Elend kennengelernt hat...“

■ Private Hilfe für Drogenabhängige: 73jähriger aus der Neustadt versucht, Frauen von der Nadel weg zu helfen / „Ich habe schon einen ganzen Haufen unter der Erde“ / Wut auf Beamtenmentalität der Drogenberater

Zwischen Ostertor und Steintor ist er bekannt wie ein bunter Hund, auch den Behörden ist er nicht fremd, mit der Drobs, den Drogenberatern, steht er „auf Kriegsfuß“. Die Rede ist von Ernst Meyn. Der 73jährige idt längst in Rente, aber das Pensionärsdasein in Pantoffeln vor dem Fernseher ist seine Sache nicht. Stattdessen verbrachte er die letzten Jahre auf der Scene.

Angefangen hat alles vor 12 Jahren. Auf dem Weg nach Hause sprach ihn eine Frau an, ob er sie nicht ein Stück im Auto mitnehmen könne. Ernst Meyn wurde schnell klar, worum es geht. Die Frau war auf der Jagd nach dem nächsten Schuß. Das war sein erster Kontakt mit der Drogen szene, um die er sich seitdem kümmert, zumindest um den weiblichen Teil. „So zwischen 15 und 20 Frauen“, hat er in den letz

ten Jahren in seinem Häuschen in der Neustadt beherbergt, sie auf Behördengängen begleitet, ihnen Therapieplätze besorgt, sie vor Gericht unterstützt, im Krankenhaus oder im Knast besucht.

Die erste Drogensüchtige, die er aufnahm - er redet von „meinen Mädels“ - wohnte neun Jahre lang bei ihm. „Aber so eine Geschichte würde ich heute nicht mehr mitmachen“, beteuert er. „Sage und schreibe 51mal war ich in Amsterdam, um sie wieder zu holen.“ Nach dieser Erfahrung hat er ganz klare Grenzen gezogen: „Dreimal mache ich das mit, wenn sie dann nicht halten, was sie versprechen, dann müssen sie raus.“ Für Iris, die zur Zeit immerhin seit sechs Jahren bei ihm wohnt, besorgte er auch schon mal einen Haftbefehl, als sie wieder drauf und dran war, auf die Scene zu gehen. „War wohl das

beste damals“, findet die 23jährige das heute okay. Jetzt will sie auf die Schule gehen und ihren Hauptschulabschluß nachmachen. Seit drei Monaten ist die Frau, die mit elf angefangen hat zu drücken, clean. Über den Entzug hilft ihr ein Codeinprogramm hinweg. Das Problem bei dem Programm: Ihr Arzt sitzt in Kiel.

Das ist auch der Punkt, über den sich Ernst Meyn besonders aufregt. In Bremen lehnen sowohl der Sozialsenator als auch der Drogenbeauftragte Methadon- oder ähnliche Programme prinzipiell ab, Programme, die Meyn für die einzige Chance hält, die Frauen aus der Scene herauszuholen, Beschaffungsprostitution und Beschaffungskriminalität zu verhindern und den Frauen schließlich wieder zu „Moralempfinden und Selbstwertgefühl“ zu verhelfen. Richtig fuchsteu- felswild wird Meyn, wenn er hört, daß jemand von „Prostituierten“ redet. Vehement setzt er sich gegen die gesellschaftliche Ächtung von Frauen ein, die zur Prostitution gezwungen werden: Durch die Notwendigkeit, sich den nächsten Schuß zu besorgen, aber genauso durch ihre Freunde auf der Scene.

Das ist auch der Grund, warum sich der Rentner nur um Frauen, nicht um männliche Junkies kümmert. „Die Männer zwingen die Mädels zum Anschaffen gehen und halten sie davon ab, Entzug zu machen“, erinnert sich Meyn an eine ganze Reihe von Fällen, die er selbst hautnah miterlebt hat. Und das sind nicht wenige. In seinem kleinen Wohnzimmer hängen die Wände voller Photos von Frauen, die er schon bei sich aufgenommen hat. Und zu jeder dieser Frauen gibt es eine Ge

schichte, die wenigsten mit Happy-End. Überdosen, Tabletten, Aids. „Ich habe schon einen ganzen Haufen unter der Erde“, resümiert er deprimiert.

Den staatlichen Drogenberatern von der Drobs wirft er vor, das „Elend draußen“ überhaupt nicht zu kennen. „Die sitzen den ganzen Tag an ihren Schreibtischen, aber auf der Scene sieht man sie nie.“ Über ihre „Beamtenmentalität“ kann er sich genauso aufregen wie über ihre Inkompetenz, sei doch die Drogenproblematik nichts, was man sich am Schreibtisch oder der Uni aneignen könne. Ansonsten beschreibt Meyn seinen Kontakt zu den Behörden als recht intensiv. „Im Lauf der Jahre hat man sich eben kennengelernt“, auch wenn es anfangs reichlich Schwierigkeiten gab. So mußte sich Meyn schon mal vom Sozialamt sagen

lassen, er mache die Frauen „wieder fit für die Scene“. Inzwischen greifen die Behörden gerne auf ihn zurück, denn „die wissen daß ich das Vertrauen der Scene habe.“ So etwa kam man auf ihn zu, als die Aidsproblematik immer drückender wurde. So langsam zieht sich Meyn aber mehr und mehr von der Scene zurück, auch wenn es immer noch eine ganze Reihe von Frauen gibt, für die er sich verantwortlich fühlt, allen voran natürlich Iris, seine Mitbewohnerin. „Solange die hier wohnt, nehme ich keine andere auf, das schaff‘ ich finanziell auch gar nicht mehr.“

Warum er das alles macht? „Aus reiner Menschenliebe“, kommt es prompt von Iris. Er selbst zuckt die Schultern: „Wenn man das Elend und die Menschen erst mal kennengelernt hat ...“

Katrin Pfister