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Geschichte als Rekonstruktion

■ Lucien Febvres „Das Gewissen des Historikers“

Lucien Febvre - den Namen dieses Historikers findet man immer dort, wo von den Grundlagen der Neuen Geschichtsschreibung die Rede ist, von einer Erweiterung der Historiographie, die von Frankreich ausging und untrennbar mit dem Werdegang der Zeitschrift 'Annales‘ verknüpft ist. Als deren Mitbegründer schuf Febvre ein wissenschaftliches Forum für Sozial-, Wirtschafts- und Zivilisationsgeschichte, eine Sammelstelle für die noch jungen Humanwissenschaften. Mit ihren Interdisziplinären Forschungen übertraten die darin veröffentlichenden Wissenschaftler die Schranken der herkömmlichen Arbeitsweise ihrer Zunft, indem sie übergreifende Fragestellungen entwickelten und eine „histoire totale“, eine globale und anthropologisch ausgerichtete Geschichte in Angriff nahmen, eine totale Geschichte, deren Zentrum die Vielheit und Einheit des konkreten Menschen bilden sollte. Ein Austausch mit Linguisten und Philologen, die mit der Sprache das jeweilige „geistige Werkzeug“ einer Epoche erforschen, sowie die Kooperation mit Ethnologen und Archäologen trägt seither dazu bei, die historischen „Menschentatsachen“ zu benennen und sie zu rekonstruieren.

Eine Auswahl aus Febvres umfangreichem Werk mit Essays, Vorträgen und kritischen Besprechungen erscheint jetzt zum ersten Mal in Deutschland; sie ist herausgegeben und übersetzt worden von Ulrich Raulff, der diese Sammlung mit einem einführenden Aufsatz zum Leben und Werk Febvres ergänzt hat.

Daß sich im Rahmen der 'Annales‘ eine Geschichte der Mentalitäten konstituierte, geht auf die programmatischen Schriften Febvres zurück. Die Individuen seiner Monographien sind ausgewählt, um ein historisches Ensemble zu rekonstruieren, indem am Beispiel der Einzelpersönlichkeit die Frage nach der jeweiligen Beziehung zwischen Individuum und Gemeinschaft gestellt wird - genauer gesagt: die Frage nach der Wechselwirkung von persönlicher Initiative und sozialer Notwendigkeit, von Handlungsfreiraum und Determination. Die Zeit von historischen Helden, deren Biographien überhöht und deren Leistungen sklavisch nachgezeichnet wurden, ist damit vorbei; die Geschichte als bloße Verherrlichung der Gegenwart, sie hat, wissenschaftlich gesehen, ausgespielt.

Das Bild von der Kreuzung, das Febvre einmal gebraucht, veranschaulicht den Standpunkt des Historikers, seine Arbeit am Bewußtsein des historischen Menschen. Er schreibt:

„Der Historiker sollte sich an dem Ort niederlassen, wo sich alle Einflüsse kreuzen, überschneiden und miteinander verschmelzen: im Bewußtsein des in der Gesellschaft lebenden Menschen. Dort wird er die Aktionen und Reaktionen erfassen und die Wirkung der materiellen und moralischen Kräfte, die auf jede Generation einwirken, messen können.“

Einem Reisenden vergleichbar, der an der Kreuzung verharrt und sich alle möglichen Ziele und Herkünfte vor Augen führt, hält hier der Geschichtswissenschaftler inne und nimmt die Einflüsse aus allen Richtungen auf, um schließlich Mechanismen und Vorstellungswelten des menschlichen Geistes in einer bestimmten Zeit sich zu vergegenwärtigen.

Die „Humangeographie“, eine Wissenschaftsrichtung, die Febvre schon vor dem Ersten Weltkrieg betrieben hat und die er am inneren Leben einer politisch-geographischen Einheit, nämlich der alten französischen Region der Freigrafschaft Burgund erprobte, diese Wissenschaftsrichtung ging bald als wichtiger Bestandteil in die neue Geschichtsschreibung der 'Annales'-Schule ein. Mit der Betonung der Einheit aller historischen Forschungsgegenstände suchte Febvre bereits in frühen Arbeiten dem Leben des „vergesellschafteten Menschen“ mit dem Ansatz einer „zusammenhängenden Geschichte“ zu entsprechen.

In wechselseitiger Abhängigkeit der Phänomene setzt der Histori- ker das Individuum seiner Epoche mit all seinen Glaubensgewißheiten und Vorstellungshorizonten in das sogenannte „Milieu“ oder „Klima“ einer sich wandelnden sozialen Struktur. Bezeichnend ist der zukunftsweisende Aufbau von Febvres erster Abhandlung: der historischen Geographie folgt die soziale und wirtschaftliche Struktur, und von der Lebenshaltung und den Weltbildern der beteiligten Menschen wird schließlich zur Darstellung der politischen Ereignisgeschichte übergeleitet. Febvre besaß somit eine sozialwissenschaftlich erweiterte Perspektive und größten Abstand zur traditionell privilegierten Politik- und Diplomatiegeschichte mit deren Vergötzung strenger Chronologie.

Febvre steht ein für die Geschichte als eine bewußte Wahl, ein Material für Hypothesen, ein Feld der Ideenexperimente, das zu einer Bündelung unterschiedlicher Disziplinen einlädt. In seinem programmatischen Vortrag heißt es:

„Erfindungen braucht es überall, damit nichts an menschlicher Mühe verloren gehe. Eine Tatsache konstatieren heißt konstruieren. Wenn man will: auf eine Frage eine Antwort liefern. Und wenn es keine Frage gibt, dann gibt es überhaupt nichts.“ - Es zeigt sich bereits der Übergang von der berichtenden zur Problemgeschichte, die keinerlei Hierarchie ihrer Quellen mehr duldet und alle notwendigen Materialien und Realien sich zu Texten macht, die sie lesen muß, es zeigt sich darüber hinaus, daß die traditionellen Ereignisse, je näher man sie anschaut, nicht länger reine Punkte auf einer vorgestellten Zeitachse bilden, sondern sich aufzufasern beginnen und eigene Strukturen erkennen lassen.

„Machen wir uns keine Illusionen.“ So schreibt Febvre. „Der Mensch erinnert sich nicht der Geschichte; er rekonstruiert sie stets. Der Mensch in der Gruppe ist eine Realität. Und der bewahrt nicht die Vergangenheit in seinem Gedächtnis wie das Eis des Nordens die Mammuts aus der Steinzeit bewahrt. Er geht von der Gegenwart aus - und durch sie hindurch erkennt er, deutet er stets die Vergangenheit.“

Febvre hat die Geschichte einmal als ein Mittel bezeichnet, „die Vergangenheit zu organisieren, damit sie den Menschen nicht zu schwer auf den Schultern liegt“. Aus seinen Schriften geht ein konsequent kritisches Verständnis der Gegenwart hervor, verbunden mit dem Nichtkonformismus, der die Wissenschaften erneuert. Es sei gerade ein besonderer „Sinn für das Unmögliche“ - so stellt der Historiker am Beispiel des Hexenwesens fest -, aus dem ein geschichtlicher Fortschritt erwächst. Dieser freiheitliche Sinn lasse sich nicht von falscher Evidenz täuschen, er schiebt die Grenzen des Lebens hinaus ins Unbekannte und macht es wahrnehmbar.

Lucien Febvre hat in einem pulsierenden, vitalen Stil geschrieben, kämpferisch und jeder „Stubengelehrsamkeit“ entgegen; aus der glänzenden Übersetzung dieser Textauswahl wird er ersichtlich. Ein Wissenschaftler und ein großer Autor wissenschaftlicher Prosa ist neu zu entdecken.

Jörg Becker

Lucien Febvre, Das Gewissen des Historikers; herausgegeben und aus dem Französischen übersetzt von Ulrich Raulff; Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 1988, 256 Seiten, 39,80 Mark

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