Kunst über Krankheit

■ „Vollbild“: Aids-Kunst für Pendler zwischen Leben und Tod

Ulf Erdmann Ziegler

Vollbild, das ist, wenn es wirklich zu spät ist: „der völlige Zusammenbruch des Immunsystems, der über kurz oder lang zum Tode führt“, wie Frank Wagner schreibt. Wagner ist kein Mediziner, sondern Ausstellungsmacher bei der Westberliner Neuen Gesellschaft für Bildende Kunst, die sich für ihr Projekt Voll- bild - AIDS, eine Kunstausstellung über Leben und Sterben den Bahnhof Westend ausgeliehen hat. Das Projekt hat Wagner „Bill“ gewidmet, „der mittendrin steckt und mich durch seine gefaßte Art immer ermuntert weiterzumachen“.

Von außen ist der Bahnhof Westend ein düsterer Bau in rotem Backstein, der abgesondert von den mächtigen grauen Berliner Blocks im Winternieselregen vor sich hin schlummert. Betritt man das Gebäude vom lärmenden Spandauer Damm kommend, steht man im oberen Stockwerk - hier nun ockerner Backstein, dessen Innenleben von einer mächtigen Treppe dominiert wird, die einst die Pendler (im Englischen so viel schöner: commuters) auf die Ebene der S-Bahn-Plattform hinunterführte. Die Bahn fährt nicht mehr. Statt dessen kann man von oben, wo - wie auf einer Empore über dem Ganzen thronend - ein schwuler Buchladen und ein Cafe ihre Ware anbieten, in einiger Entfernung auf gleicher Höhe den massiven Betrieb auf der Berliner Stadtautobahn verfolgen.

Ist man unten angekommen, kann man die verlassene S-Bahn -Plattform sehen. Die Werbeflächen jedoch sind plakatiert: die Buchstaben A-I-D-S in zweizeilig-quadratischer Anordnung. Eine Plakataktion der amerikanisch-kanadischen Künstlergruppe „General Idea“. Die Typographie des Buchstabenblocks erinnert an das Signet der Hippie-Pop-Zeit: LO/VE. Irritiert sehe ich zurück ins Treppenhaus. Dort hängt ein Vier-Quadratmeter-Gemälde des Australiers Juan Davila. In leuchtenden Farben, Verläufen, aggressiven Mustern zeigt es dieselben Buchstaben, allerdings in der französischen Variante: SI/DA. Das Bild heißt „LOVE“. Bei den Plaka(k)teuren, beim Maler die gleiche Idee: typographisch das Ende einer Utopie zu verkünden. Wer „Kunst über Krankheit“ absurd findet, wird gleich hier daran erinnert, daß es vor zwanzig Jahren niemand absurd gefunden hat, bestimmte Farben, Buchstaben, Gesichter für die Propagierung eines „freieren“ Lebensstils einzusetzen, dessen Grenzen Aids so makaber sichtbar gemacht hat. Und dessen Erfolg in unseren Köpfen den Spielraum ermöglicht, den die Aufklärung über Aids braucht.

Diese Ausstellung ist keine Vorschau einer Benefiz-Aktion, und um so stärker ist der Druck auf die Kunstwerke, tatsächlich zum Aids-Komplex Stellung zu nehmen (ganz gleich, ob man der Künstler ist oder der Betrachter). Der Zusammenhang ist noch leicht herzustellen bei Thomas Bayrle, der die Spur eines Pinselstrichs in ein Druckverfahren überführt hat und unter anderem auch auf Latex druckt, dem Material, aus dem Kondome sind. (An den Fingerspuren kann man sehen, daß ich nicht der einzige Ungläubige war.) Klar ist der Zusammenhang bei den großen Bildern von Salome, die verschiedene Formationen bunt gekleideter Glatzköpfe zeigen, die sich vor einem deckenden schwarzen Hintergrund (Ende der „wilden“ Malerei) stereotyp gestikulierend um eine sitzende nackte Figur ordnen. Deutlich ist der Zusammenhang in den Bildern eines Martin von Ostrowski (Wandfarbe auf Nessel), der die Raster, Schemen und Spritzer Sigmar Polkes dreist kopiert und auf schwule Themen anwendet; oder in den schrillen, herrlich plumpen Polaroid-Über-Zeichnungen (Filz und Leuchtstifte) eines Künstlers (wer weiß: einer Künstlerin?) namens Rainer Wahnsinn. Unter Fratzen und Symbolen Haut und Haare, im fotografischen Sinne „echt“ und doch von den Kritzeleien ausgelöscht.

Wer von Aids spricht, spricht von Sex, Verhütung, schwulem und heterosexuellem Alltag (wobei letzterer hier eigenartig unterschlagen wird) und Tod. Und von Leuten.

Mit den Leuten tun sich die Fotografen leichter, die vollbildlich nur als Porträtisten in Erscheinung treten. Im Zentrum steht dabei Peter Hujar, der New Yorker Fotograf, dessen schwer erigiertes „Carlos„-Porträt die taz am 7. Dezember letzten Jahres als Aufmacher der Kulturseiten brachte. Seine Porträts sind eigenartig warm (im Licht); die Einsamkeit der Figuren wird weder retuschiert noch stilisiert. Und da sind Bilder, die Hujar als (an Aids) Sterbenden zeigen. Da überkam mich der Jammer, weil ich meinte, ihn, Hujar, zu kennen, durch die Gesichter der anderen.

Weitere Fotografien, von Texten begleitet, und vier Videofilme kommen aus Amerika, wo man mehr Routine hat im Sich-Mut-Machen, mit der Politisierung der issue (Angelegenheit) Aids. Wo man, kollektiv und für Momente, höher hinaus steigt im Wir-Gefühl, im Fäuste-Recken; und wenn es dann zu spät ist, das Vollbild sich zur Schwärze schließt, der Partner verloren ist, auch noch Worte findet für die Trauer: „Er war ein edler Mensch. Er war wirklich auf eine besondere Art eine erleuchtete Seele“ usw.: Jim, 42, über seinen Partner Michael, den er gerade verloren hat. Zum Fotografen, auf Band, per Telefon.

Ein anderer, Bob, selbst krank von Aids: “... und es gab Zeiten, da war es ... wirklich schwer für jeden von uns beiden. Und hier und da kommen Ängste hoch.“ Ängste: das Psychowort. Gegen Ängste gibt es Therapien. Zu diesen Therapien gibt es Sprachregelungen. Zum Beispiel von „Ängsten“ zu reden, und nicht von „Angst“.

Von dieser Angst wird zuwenig gesprochen. Zu leicht erscheint der Aids-Tote im nachhinein als moralischer Held. Vince Aletti steuert gegen, Kritiker bei der 'Village Voice‘ und Freund Peter Hujars, dessen (im Vollbild-Katalog gedruckter) Nachruf auf den Fotografen ein schonungsloses und deshalb mitreißendes Porträt ist. Er zeichnet Hujar als eigenartig verschwiegenen Szene-Charmeur, reizbaren Menschen, Choleriker schon lange vor der Krankheit: „Das Leben war zu einer Serie kleiner Affronts geworden, die er nicht vergessen konnte: unreife Pfirsiche, Suppenlöffel, die verlegt wurden, die falsche Marke Reinigungsmittel.“ Der langsame Tod des eigenwilligen Freundes stürzt Aletti in einen „so wilden Lebenshunger, daß ich benommen war. Ich war hungrig, geil, gefräßig.“ Darüber kann keine Propaganda hinwegtäuschen: Die, die überleben, sind nicht die, die sterben.

Der Katalog enthält noch andere gute Texte und ist ohnehin das eigentliche Meisterwerk dieser Ausstellung. Klar getrennt, schon durch die Papiersorten (Werkdruck und Glanzpapier), der Textteil, die Künstlerseiten und ein Informationsteil, in dem sich Selbsthilfegruppen und Organisationen, die mit Aids befaßt sind, vorstellen. (Sie haben auch ein paar separate Räume der Ausstellung für ihre Zwecke.) Durch den Katalog läuft, wie ein Signet, eine Bildserie von Ingo Taubhorn, der seine schlichten (und ähnlich wie Hujar: präzisen) Porträts verdoppelt hat, wobei das linke Bild jeweils untertitelt ist: „Ich bin positiv“, das rechte: „Ich bin negativ“. Eine Polemik gegen den allgegenwärtigen Volksgesundheitsblick, deren Methodik allerdings (soweit ich zurückblicken kann) von Timm Ulrichs geklaut ist, von dem Taubhorn sicher bald Post bekommen wird. Denn Ulrichs mahnt seine Plagiateure regelmäßig ab.

Den Katalog, übrigens auch eine typographische Hochleistung (Gestaltung: Detlev Pusch), bekommt man für 22 Mark plus Porto bei der NGBK, Telefon 030/2163047.

Ein bißchen Aufklärung also, ein bißchen Kondom-Kunst und „große“ Kunst, ein bißchen schwuler Lifestyle, und Gedenken. Geht das? Es geht. Vielleicht ist es die Vorstellung der Krankheit selbst, die das Netz aufspannt, in dem das heterogene Material Platz hat. Aber es ist auch der lichte Bahnhof, den man (weil es keine Kasse gibt) von unten wie von oben betreten kann, als kommunizierender Pendler (communicating commuter) zwischen Infektion und Vollbild, Verhinderung und Verhütung, Lebensrausch und tödlichem Tausch, Gesellschaft und Mythos, Politik und Kunst.

Weil das Netz funktioniert, entfalten gerade jene Kunstwerke ihre größte Kraft, die nicht Aids zum Thema haben (jedenfalls nicht erkennbar). So ein mächtiges Schwarzweißfoto von Astrid Klein, eine Montage von enormer Tiefe, flimmernd zwischen Objekt und Typographie (Landstreicher-Zinke, Fotoarbeit, 1987). Oder eine höchst merkwürdige Assemblage primitivst gebastelter, krude an die Wand genagelter Objekte der New Yorker Gruppe „Group Material“, die einen anschweigen - Filz und Holz und Glas und daran erinnern, daß man da ist, daß es ohne den Sehenden keinen Sex gibt und keine Kunst und daß alles ein Ende hat, wenn die Pendler ausbleiben.

Vollbild - AIDS, eine Kunstausstellung über Leben und Sterben. Im Bahnhof Westend, Spandauer Damm/Ecke Stadtring, West-Berlin. Bis zum 12. Februar 1989. Katalog DM 22,