Testfall

■ Preiserhöhungen in Ungarn

Die angekündigten drastischen Preiserhöhungen in Ungarn sind ein erster Testfall für die neue Budapester Reformpolitik, die seit Mai letzten Jahres mit atemberaubendem Tempo vorangeschritten ist. Auf eine einfache Formel gebracht, beruht die ungarische Politik auf dem Tauschgeschäft: politische Freizügigkeit plus offene Kritik an der rumänischen Diktatur gegen das Aushalten größerer sozialer Spannungen. Doch diese Politik hat die Gesellschaft nicht unbedingt zufriedener, sondern vor allem aufmüpfiger gemacht. Es ist fraglich geworden, ob sich die ungarischen Wirtschaftspolitiker wie bei der Preiserhöhung im letzten Jahr noch auf das Stillhalten der Bevölkerung verlassen können.

Die ungarischen Preiserhöhungen sind aber auch ein Testfall auf sozialistische Reformpolitik insgesamt. An der Frage der Preispolitik ist bislang jede Reform des Sozialismus gescheitert. Erst vor wenigen Wochen haben die reformwilligen Chinesen an dieser Stelle einen Rückzieher gemacht, weil sie die soziale Unruhe befürchteten.

Das Dilemma bei den sozialistischen Preisen ist, daß sie, gemessen an der Kaufkraft der Beschäftigten, schon heute viel zu hoch sind; nimmt man jedoch deren Arbeitsproduktivität zum Maßstab, liegen sie viel zu niedrig und müssen mit hohen Subventionen aus dem Staatshaushalt bezahlt werden. Auch der Erfolg von Gorbatschows Perestroika wird letzten Endes unter anderem von der Reform des Preissystems abhängen. Eine neue Konfliktstruktur entfaltet sich dabei im Sozialismus, in dem Gewerkschaften, Manager maroder Industrien und konservative Kommunisten an einem Strang gegen die liberale Intelligenzija und die monetaristisch gesinnten Wirtschaftsreformer ziehen. Nur wenn es den Reformern gelingt, durch eine effektive Sozialpolitik die Härten der Preiserhöhungen abzufangen, können sie die Bevölkerung dazu bewegen, den Reformen die Stange zu halten.

Hubertus Knabe, Budapest