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Man braucht den Schmerz

■ Ein Gespräch mit dem Lyriker, Dramatiker, Prosaisten und Filmemacher Thomas Brasch über Sartre, Vatermord, Sinn und Form, Dramaturgien, Verrat, Eulenspiegel und Hamlet

Olaf Arndt / Michael Stoeber

taz: Derzeit stellt Frau Cohen-Solal ihre Sartre-Biographie in der Bundesrepublik vor. Mit diesem Buch scheint sich so etwas wie eine Sartre-Renaissance zu verbinden, ein neues Interesse an Werk und Leben des französischen Autors. Sie selbst wurden 1973 in der DDR wegen „existentialistischer Anschauungen“ aus der Partei ausgeschlossen. Welche Bedeutung hatte Sartre für Sie?

Thomas Brasch: Ich lernte Sartre über die Warschauer Buchmesse kennen. Wir fuhren in dieser Zeit immer nach Warschau, und da klauten wir alles, was nicht niet- und nagelfest war. Mein Rekord waren Bosch- und Breughel-Bände, das waren solche Apparate (er zeigt ein männerbrustbreites Buchformat), damit schoß ich den Vogel ab, das glaubte mir keiner, daß ich das da gestemmt hatte, und dann habe ich mich tatsächlich - ich glaube, es war ein bißchen vergeudete Zeit - überDas Sein und das Nichts hergemacht. Mitte der sechziger Jahre in der DDR: Das war für uns so, daß alles, was verboten war, gut sein mußte; und Sartre wurde heftig angegriffen: politisch. Adam Schaff schrieb damals in Polen sein BuchMarx oder Sartre, und die Frage, ob eine Utopie von einem Individuum und seinem Rollenverhalten, seinem „Geworfensein“ dominiert wird, das war die heiße Diskussion.

Als Schriftsteller hat er mich nie besonders interessiert. Ich dachte immer, daß das jemand ist, der nach einer Regel schreibt, die er in der Philosophie viel genauer und interessanter faßt. Und daß er nach diesem Rezept arbeitet und schon vorher weiß, was dabei herauskommt. Ich fand, er sei ein entsetzlich schlechter Stückeschreiber. Da war mir Camus viel näher. Ich glaube, Sartre hatte aber viel mehr als Camus eine große politische Bedeutung für uns; ich denke da an Ungarn und seine Abwendung von der Kommunistischen Partei...

Wobei er dem breiteren Publikum aber eben doch durch die Theaterstücke bekannt wurde.

Die finde ich grauenhaft, weil die so sind wie jemand, der mir beweisen will, daß zwei mal zwei vier ist, und das auch tut, nur sehr umständlich. Er beschreibt im Sein oder Nichts, eben nur philosophisch, den Mann, der durchs Schlüsselloch sieht, dabei ertappt wird, da kommt dieser Blick des anderen, der ihm sagt: Du bist ein Voyeur - da erst wird ihm klar, welche soziale Funktion er hat. Das beschreibt er mit der linken Hand, ganz unambitioniert während, wenn er die großen Überlegungen zur Politik auf dem Theater in Tote ohne Begräbnis oder Nekrassow anstellte, schien es mir umgekehrt wie Brecht: Man merkt die Absicht und ist verstimmt. Vatermord

Mir scheint, in Huis clos, wo gerade dieser Blick thematisiert wird, von dem wir sprachen, in diesem Die Hölle sind die anderen ist das gerade auch in der Dreierkonstellation doch sehr überzeugend und auch theaterwirksam entwickelt.

Für uns war es anderswo wichtig. Unseren Dozenten und unseren Parteifunktionären jedenfalls sind wir mit einer wenn ich's heute sehe - doch recht kleinen Haltung entgegengekommen. Das hatte seinen Grund, damals war das wichtigste: Sozialismus in diesem Land, und die Freiheit kommt danach - da benutzten wir natürlich solche Argumente, existentialistische Anschauungen.

Wenn er Marx sagte, sagte ich Sartre, wenn die Partei Gelb sagte, sagte ich Grün. Man kommt schon in einen kleinen Oppositionswirbel, es macht Spaß zu widersprechen. Nicht alles war sicher richtig. Es gab damals ein Lied von Biermann, das war ganz schön: Was verboten ist, das macht uns gerade scharf.

So wie Bertolucci mal sagte, er finde es völlig falsch von den Linken, zu sagen, man dürfe Kinder nicht schlagen. Man darf sie sicher nicht verprügeln, also nicht ins Gesicht, das ist ja klar. Da, wo er groß geworden ist, in Süditalien, gehörte das dazu, das diente dazu, eine Auflehnung zu provozieren: wenn man immer alles bekommt, was man will, wie in der antiautoritären Erziehung - man braucht den Schmerz, um eine eigene Position zu bestimmen. Man braucht den Vater in einer ganz bestimmten Zeit als Feind. Nichts ist schlimmer, als daß der Vater ständig sagt: Ich bin dein bester Freund. Es gab damals in 'Pardon‘ einen Cartoon, da stehen sechs Kinderchen neben so einer Latzhosenkindergärtnerin, und der eine guckt hoch zu der Tante und sagt: Müssen wir heute wieder spielen, was wir wollen? Da ist eine Generation versaut worden.

Das ist diese „Double-bind„-Geschichte, die im Extremfall zu Schizophrenie führt.

Da hatten wir in der DDR starke Vaterfiguren.

Da konnte man also den Vatermord günstig proben. Das findet man ja auch in ihrem Stück „Rotter“, diese Maxime: „Ich bin einer von mir“, diese Abgrenzung gegen den kollektiven Aufbruch, wobei Sie das ja gleichzeitig in zwei Richtungen deklariert haben, nach ihrem erzwungenen Wechsel; „ich stehe für niemanden als für mich“ als Mittel gegen Vereinnahmung.

Ja, als die Zeitungen sagten, wenn einer von dort hierher kommt, heißt das, daß er seine Stimme dafür abgibt, daß es hier besser ist, und mich dadurch zum Beispiel machen wollten, so wie mich dort die Universitäten zum Beispiel für existentialistische Anschauungen machen wollten, für Opposition. Das geringste Interesse dabei gilt dem, was man arbeitet. Biographie war wichtiger als ein Stück, Gedicht oder Film. Sinn und Form

Sie sind Lyriker, Prosaist, Dramatiker, Filmemacher in einer Person. Läßt sich da ein gemeinsames Zentrum aller Arbeiten in den verschiedenen Medien bestimmen?

Bei mir geht es immer andersherum. Ich finde eine Geschichte, die mich interessiert, zum Beispiel eine, die ich nie geschrieben habe, an der ich herumüberlege, vielleicht ist es nur eine Ballade, vielleicht eine Erzählung, ein Roman, Theater oder Film.

An dem Tag, als die französische Revolution krachte, gab es eine Vernehmung eines Mannes, der bei dem General, der sich gegen Robespierre stellte, Reiter war und losritt, um Robespierre zu verhaften und der Revolution den letzten Stoß zu geben. Der kommt in Paris in ein Gewühl und findet sich plötzlich auf der Seite der Robespierre-Partei, weiß auch nicht, was er machen soll, weil er gesehen wurde unter den Leuten von diesem General Herault, der auszieht, um Robespierre zu verhaften, wechselt dann noch mal die Fronten und noch mal und noch mal, nicht weil er es will, sondern weil er immer in eine Situation kommt, in der er Angst hat, erkannt zu werden als der Verräter der anderen. Zum Schluß war er der, der in einem Zustand äußerster Ratlosigkeit und Hektik Robespierre ins Kinn geschossen hat - Robespierre ist dann ja mit dieser Kinnbinde zur Guillotine gebracht worden. Im Grunde war er, der mehr gestoßen wurde, mehr Billardkugel war als Spieler, plötzlich das Zünglein an der Waage.

Ich weiß nicht, in welche Form ich sowas bringen kann. Als ich das Verhör gelesen habe und die Zeugenaussagen dazu, wußte ich - und so schreibt man doch wohl auch -: Da ist irgendwas, daß mich interessiert. Die Ideologie oder der Grund, warum es mich interessiert, um die kümmerte ich mich erst mal gar nicht, wenn diese Portion Dummheit oder auch Instinkt verlorengeht beim Durchrationalisieren, dann ist die Geschichte plötzlich leer und geht verloren. Deswegen bin ich auch extrem theoriefeindlich, zumindest, was meine Sachen angeht.

Einen zwingenden Zusammenhang zwischen dem Stoff und der medialen Vermittlung gibt es nicht?

Das Medium kommt heraus durch Irrtümer. Man fängt an, etwas als eine Ballade zu schreiben. Dann merkt man, so geht's nicht. Es ist wie bei den Naturwissenschaftlern, die immer glücklich sind, wenn sie einen Irrweg gefunden haben, weil sie wissen, dadurch grenzt sich die Zahl der verbleibenden Möglichkeiten ein. Irrtum ist ein Fortschritt.

Sie sprechen von dem Bemühen um die einzige und wahre Form, die den Stoff zu Kunst macht. Gibt es da Qualitätsmerkmale?

Die kenne ich gar nicht. Ich kann nur sagen, daß ich zu wissen glaube, wann etwas stimmt. Aber auch das wechselt häufig. Es gibt zum Beispiel kein Stück, daß ich so wenig mag wie Rotter, bei dem ich das Gefühl habe, nicht lang genug vorher nachgedacht zu haben. Dramaturgien

Welches Ihrer Stücke schätzen Sie denn am meisten?

Lovely Rita. Ich denke, ich habe da eine Maschine gesucht und gefunden, die das, was ich politisch und ästhetisch transportieren will, am weitesten bringt. Ich habe das Gefühl, ich bin bei allen anderen Stücken schlechter als bei diesem Stück. Tragelehn, der Regisseur, der ein Freund von mir war, hat das Stück eine „Wundermaschine“ genannt.

Da tritt ein Publikum auf und wünscht sich eine Frau zur Heldin, dann tritt die Heldin auf und wünscht sich eine Biographie, und das Theater stellt sie ihr zur Verfügung. Sie will homosexuell und heterosexuell sein, sie möchte mit Frauen schlafen und mit einem Mann. Sie möchte subversiv und erfolgreich sein, und das Publikum führt sie gegen sich selbst. Aber auch hier wechselt meine Einstellung gegenüber dem Stück. Da gibt es Dinge, die ich plötzlich neu sehe.

Es gibt in Berlin-Moabit ein schönes Graffiti: „Immer wieder Lovely Rita!“.

(freut sich) Lange Zeit wollte ich eigentlich gar nichts mehr lesen von dem, was von mir gedruckt war. Das war wie tote Kinder. Da hatte Suhrkamp seinen Grabstein draufgestellt. Nur nicht wieder ausbuddeln. Aber irgendwann, wenn meine Freundin schläft, dann stehle ich mich mal raus und mache das, was eigentlich am Unappetitlichsten ist: Ich lese ein eigenes Buch, und jeden Augenblick denke ich, jetzt geht die Tür auf und jemand kommt herein - das ist schlimmer, als beim Onanieren erwischt zu werden.

Ja?

Na, stellen Sie sich vor, Sie kommen zu Günter Grass in die Wohnung, und der sitzt da und liest völlig gebannt die Blechtrommel. Das wäre doch schon sehr merkwürdig.

Aber dann plötzlich sieht man bei sich selbst Ansätze, wo man nicht genau war und wo man weitergehen kann. Und das kann einem manchmal schon helfen bei dem, was man gerade schreibt. Im Augenblick versuche ich - was hundsmäßig schwer ist -, ein Stück in einer herkömmlichen Dramaturgie zu schreiben, mit den Regeln eines bürgerlich gebauten Stückes, und ich merke einfach, daß ich es nicht kann.

Zu welchem Zweck?

Um es zu schreiben und diese Regeln am Schluß leerlaufen zu lassen. Und zwar so, daß ich nicht von vornherein sage, wie zu Beginn von Mercedes, daß es die Regel nicht mehr gibt und ich mir so einen Freiraum schaffe, vieles machen zu können. Dabei merke ich, daß es leicht ist zu sagen, wie die Lisa Gabler inDomino: Das Alte geht nicht und das Neue auch nicht. Das ist ja relativ stromlinienförmig dahingesagt. Weil sie mit einem Konflikt nicht klarkommt, ihn zu rubrizieren und ihn damit für sich selbst zu beerdigen. Beim Umgang mit den Regeln lerne ich, daß aus dieser Dramaturgie auch eine Kraft kommt.

Sie meinen, als Gerüst, als Instrumentarium?

Ja.

Wobei Sie die herkömmliche Dramaturgie für sich einfordern und dabei aber immer auch schon in Frage stellen?

So ist es, aber mit der Absicht, dieses Instrument erst einmal in aller Ruhe auszuarbeiten. Also: Das Haus erst einmal zu bauen und dann zu bombardieren.

In „Mercedes“ gibt es Sakko und Oi, und es gibt - in den eingeschobenen, lehrhaften Diskursen - die Darsteller von Sakko und Oi. In „Frauen Krieg Lustspiel“ ist die Rollenidentität endgültig aufgebrochen. Es gibt nur noch die Darsteller von Rosa und Klara.

Ich habe in Frauen Krieg Lustspiel versucht, die Geschichte zweier Frauen zu erzählen. Die eine Version ist: Wir leben 1921, kommen aus dem Ersten Weltkrieg, du warst die Hure in diesem Krieg und ich die Nonne. Jetzt sitzen wir hier in diesem Frieden in der Waschküche. Du hast dein Kind umgebracht, und die Polizei wird gleich kommen. Das ist die Wahrheit der einen, die Wahrheit der anderen ist: Wir schreiben überhaupt nicht das Jahr 1921, sondern wir schreiben, sagen wir, das Jahr 1980. Das, was du dir da über den Krieg ausdenkst, das hast du aus den Tagebüchern unserer Großmutter. Wir sind Schwestern, und du mußt wieder zurück ins Internat und Französisch lernen - und das willst du nicht. Statt dessen erfindest du dich immer wieder neu als eine Verrückte, und wenn es hier klopft, denkst du und versuchst es mir einzureden, es wäre die Polizei.

Ich wollte gern die Aufhebung von dem, was Wahrheit ist, ohne mich entscheiden zu müssen, wessen Wahrheit die reine Wahrheit ist. Weil ich glaube, daß an einem gewissen Punkt die Einbildung, in einem Krieg zu leben inmitten eines so lautlosen Friedens, eine Realität ist. Ich glaube, daß in dieser, von den Zeitungen als Frieden apostrophierten Gegenwart meine Wahrheit die eines Krieges ist. Er findet nur anders statt. Solche Texte sind nur zu behandeln von Leuten, die eine Stellung zu dem Text beziehen. Wenn Frau Affolter diesen Text spielt, dann stellt sie die Rosa dar oder die Klara, die die Rosa darstellt. Vielleicht ist das viel zu kompliziert, aber mit schien es richtiger zu sagen: Das ist Rosa und das ist Klara. Verrat

In diesem wie in anderen Stücken gibt es das Thema Verrat. Hat das auch eine politische Dimension?

Den Verrat gibt es bei mir überall, weil ich finde, daß er zwischen zwei Menschen die höchste Form ist, aus einem Verhältnis auszubrechen und es gesellschaftlich zu machen. Ob ich nun meinen Freund bei der Polizei oder meine Frau bei einer anderen Frau verrate, jeder, der hingeht und sagt, ich weiß, daß der das und das tut, will aus dieser privaten, komischen Schlange „Beziehung“ heraus und will das scheinbar private Problem zu einem öffentlichen machen.

Es gibt einen Film über die IRA, Informer, über einen Mann, der aus seiner Klasse fällt und zum Spitzel für die Polizei wird: Ein wirklich klassisches Beispiel dafür, daß jemand einen psychologischen und politischen Zustand nicht mehr aushält und ihn vergesellschaftet. Spitzel sind für mich ungeheure Figuren. Sie sind politisierte Autoren. Christopher Marlowe war ein Spitzel für die britische Krone und wurde als solcher mit 27 oder 28 Jahren in einer Kneipe in London erschlagen. Spitzel haben etwas von Autoren: Sie beobachten, nur sie verkaufen das anders. Jedes Buch, das ich schreibe, ist auch ein Verrat. Jedes Gedicht, das ich schreibe und veröffentliche, nehme ich aus dem „Ich liebe dich, du Schöne“ heraus und vergesellschafte eine scheinbar private Geschichte.

Zweisamkeit und Diskretion sind Formen, die die bürgerliche Gesellschaft für große moralische Tugenden hält - und die ich für das Unmoralischste überhaupt halte.

Robert Jungk, der während der Novemberrevolution in Berlin war, hat einmal erzählt, daß ihn interessierte, was ein ganz bestimmter literarischer Club in den 72 Stunden machte, die diese Revolution dauerte. Er wollte sehen, was alle diese angeberischen Lyriker und verschwollenen Leute dort treiben, während die Arbeiter und Soldaten Räte gründen, und er kam in dieses literarische Cabaret, und es war überfüllt mit Leuten aus der Nachbarschaft. Die Leute redeten über ihre Angelegenheiten. Das ging bis in Eifersuchtsgeschichten, von der großen Politik bis zur Frage: Wie soll ich denn morgen weiterleben, wenn hier die Kommune siegt, muß ich dann auch wieder arbeiten, und meine Alte wird hier weiter fremd gehen, wenn ich nicht da bin? Und plötzlich merkte Jungk, daß da ein USPD-Abgeordneter war, der das alles zu organisieren versuchte, dem das alles zu privat wurde, und der sagte: Stop! Wir müssen jetzt über die Arbeiter- und Soldatenräte sprechen. Da sah ich die Leute, schreibt Jungk, kreidebleiche Gesichter kriegen und auseinandergehen, weil sie dachten, Revolution heißt: Das Aufbrechen aller Tabus, auch das der Diskretion!

Nehmen Sie die Geschichte zwischen Woyzeck und Marie: Sie ist auf den ersten Blick nichts anderes als die eines Psychopathen und einer Eifersucht. Wenn ich aber das Büchner -Stück ansehe, ist es eine eminent politische Geschichte. Es ist aber auch eine, die man wie Courts-Mahler erzählen könnte. Büchner jedoch wirft einen schrägen Blick auf dieses scheinbare Privatleben, so daß wir in diesem Kristall plötzlich einen Staat wiedererkennen.

Deswegen interessiert mich der Verrat. Durch ihn veröffentliche ich meinen Unmut, ich vergesellschafte ein unglückliches Bewußtsein. Eulenspiegel

In einer Bildbeschreibung zu Hieronymus Bosch haben Sie den „Garten der Lüste“ als Reich der Freizeit bezeichnet. Welche Rolle spielt die Sexualität in Ihrem Werk?

Da dürfen Sie mich nicht fragen. Ich kann nicht gleichzeitig Patient und Analytiker sein, nicht gleichzeitig Autor und mein eigener Kritiker.

In Ihren Texten taucht wiederholt die Figur des Eulenspiegel auf, als Sinnbild des „frustrierten Revolutionärs“, wie Sie sagen.

Eulenspiegel macht etwas, was doch eigentlich verboten werden sollte, etwas Ungeheuerliches.

Der Bauernkrieg hat stattgefunden, der Bauernkrieg ist gescheitert. Die letzte revolutionäre Erhebung überhaupt, wie Engels sagt. Und was nach dem Bauernkrieg kam, war schlimmer als das, wogegen die Bauern sich aufgelehnt hatten. Jetzt geht Eulenspiegel durch die Dörfer und piesackt die Bauern, das heißt er führt ihnen ihre eigene Impotenz vor, ihre Erschlaffung. Das ist ähnlich subversiv, als würde man den Hausbesetzern heute, ihrem romantisch revoluzzerhaften Habitus den Spiegel vorhalten. Die reden ja schon fast wie mein Urgroßvater über den Ersten Weltkrieg und andere Leute, die ich kenne, über '68. Ich versuche, die Parallele mal weiterzutreiben: Die müßte man piesacken, zum Beispiel in der Maske der CDU-Abgeordneten, damit sie noch mal und noch anders und mit mehr Phantasie ohne die Klischees der mißglückten Erhebung agieren.

Das tut Eulenspiegel. Und er tut damit das Unpopulärste, was man tun kann. Seine Adresse ist nicht mehr die Macht, weil er sagt: Was die Macht ist, das weiß ich. Seine Adresse ist die geschundene Kreatur, aber nicht, um sie zu verherrlichen und ihr den Heiligenschein zu verpassen - wie es Pasolini getan hat -, sondern um zu insistieren, daß die Unordnung, die Resignation gegeißelt wird. Das tut Eulenspiegel und begibt sich damit in eine völlig hoffnungslose Situation, weil er damit zwischen alle Stühle gerät.

Aber er bringt doch auch die Verhältnisse zum Tanzen, schafft Irritationen?

Das ist zumindest, was er will. Und daher werden für seinen Tod auch drei Möglichkeiten durchgespielt: Einmal erledigen ihn die Herren. Dann die Bauern, weil sie es nicht mehr aushalten, daß sie ihre Unfähigkeit vorgespielt bekommen, weil er eine Musik spielt, die sie nicht ertragen. Oder aber die Kinder steinigen ihn, die sich schlicht langweilen, da seine Witze nicht mehr gut sind. Das sind die drei Varianten.

Es gibt da einen vergleichbaren Fall in der Biographie Pasolinis, der mich interessiert. Ich fand dort die Beschreibung der Strichjungen in Ostia immer höchst interessant, die über Pasolini gesagt haben, der kam da in seinem Porsche, und während man bei den anderen Freiern ins Auto stieg, dem einen geblasen hat, sein Geld bekam und fertig, sagte dieser Freier immer, er sei doch eigentlich einer von uns, und er würde mit uns fühlen, und das hat uns am meisten verrückt gemacht, und der, der ihm da über den Schädel gefahren ist, das finden wir eigentlich o.k. Denn wir wollen als Knechte behandelt werden - das sag‘ ich jetzt mal so -, man soll uns nicht ständig mit so einer Klassenbrüderschaft auf die Schultern klopfen. Die Einsamkeit Pasolinis unter den Herren in Rom steht auf einem anderen Blatt. Daß er dieses Zugehörigkeitsgefühl gesucht hat zu den Leuten, die er mochte und liebte, die ihn aber nicht mehr wollten, das ist, glaube ich, im Preis inbegriffen, wenn man anfängt zu schreiben und zu veröffentlichen. Dann gehört man eben nicht mehr dazu.

Ist er denn ein Fall für die - wie heißt es bei Ihnen „papierfressenden Schweine der Geschichte“?

So ist es. Mir ist richtig wohl erst, wenn ich von beiden Seiten getreten werde. Den Applaus der Leute, die sich da geadelt fühlen und sagen: Ja, wir sind die Unteren - den will ich auch nicht. Das ist nicht der Rand. Ich könnte da eine Topographie schwer genauer fassen. Aber als Autor ist man ja auch eine gehörige Portion Kleinbürger, das heißt man ist kein Bürger, und Prolet ist man auch nicht. Das ist die Gefahr sowohl der großsprecherischen Attitude wie des Hüftspecks.

Die Literaturgeschichte versucht sich darin, die Wechselbeziehungen zwschen Autoren und ihrer Epoche herzustellen. Sie formuliert Gemeinsamkeiten und Widersprüche einerseits unter den Autoren selbst und andererseits im Verhältnis zu ihrer Zeit und zu der Gesellschaft, in der sie leben. Immer aber ergibt sich so etwas wie eine Struktur, ein Netz von Topoi. Könnten Sie so eine Struktur für Ihre Zeit erkennen?

Herrimhimmel, ich denke, ich spreche hier mit der taz. Ihr habt euch unter falschem Namen vorgestellt. Das klingt ja wie das germanistische Oberseminar.

Wenn ich hundert Jahre später lebte und diese Ameisenliteratur überblickte, würde ich wahrscheinlich meinen, wir leben im kabarettistischen Barock. In einer Kultur, in der der Hosenknopf mit der Dampframme angenäht wird - ich glaube, ich hab's wohl auch irgendwo geschrieben

-, das heißt, die Anstrengungen der Autoren sind größer als die Gegenstände, die sie vorfinden. Hamlet

Das würden Sie auch auf sich münzen?

Ich glaube, ich muß. Einmal ernsthafter: Nehmen wir an, Sie hätten das Shakespeare fragen können. Ich glaube, Shakespeare konnte nicht wissen, daß er zu einem ganz entscheidenden Zeitpunkt lebte: an einem Übergang, wo eine Gesellschaft stirbt und eine neue, ganz potente Gesellschaft aufkommt. Vulgärmaterialistisch formuliert: an einem Zeitpunkt des Absterbens der feudalen und des Heraufkommens der bürgerlichen Gesellschaft. Aber es hat etwas damit zu tun. Gleichzeitig lebte er an dem Punkt des Niedergangs eines Weltreiches, was äußerst selten noch geschieht, mit allen Konsequenzen für den Umgang der Leute miteinander gesellschaftlich, politisch, sexuell. Er lebte an einem Knoten, der vielleicht nur alle zweitausend Jahre passiert. Ich glaube, er hätte nichts anderes zu antworten gewußt, als: Sehen Sie, ich wollte die Geschichte eines Prinzen erzählen, der in Deutschland studiert hat und nach Dänemark zurückkommt mit der Bildung, die man an so einer Universität erwirbt, und sein Vater kommt ihm als Geist entgegen und sagt: Räche mich nach den alten Regeln, die wir haben, den Tod des Vaters zu rächen. Und dieser Mann, der nun von einer hohen Universität kommt, ist nicht mehr fähig, die alten Gesetze des Dschungels zu erfüllen.

Hamlet zögert ja gar nicht - Hamlet ist kein Zögerer. Er hat nur das Handeln im alten Sinne verlernt. Er ist wie ein Computerfachmann, dem man sagt, er solle einen Tisch herstellen. Das kann der nicht mehr. Hamlet ist in der höheren Technologie gewesen und kommt zu den Jägern und Sammlern zurück. Er hat seine Talente, er kann sie nur nicht unterbringen. Es steht der neue Typus des Helden der alten Arbeit gegenüber. Ich glaube, Shakespeare würde es gar nicht so kompliziert wie ich erklärt haben. Sondern er hätte wohl gesagt, das fand ich eine spannende Geschichte. Nur Shakespeares Talent war größer als seine Erkenntnis über sein Talent, deswegen ist er ja so gut, deshalb ist er so unlogisch und so ungeheuer gut, weil er sich nie Gedanken darüber gemacht hat, in welcher Zeit er was schreibt, sondern er war der Schaum auf einer Welle, die wirklich nur alle zweitausend Jahre einmal spült.

Es kann sich herausstellen, aus einer Sicht, hundert oder fünfhundert Jahre nach uns, und das meine ich gar nicht ironisch, daß ein großer Chronist dieser Zeit Simmel war und all die hochintelligenten Leute, die vieles erzählt haben, werden über die Zeit, in der wir sind, gar nichts gesagt haben. Sondern plötzlich wird etwas, was wir tief verachten, ich hoffe, es wird nicht Ulla Hahn sein, etwas haben, was wir heute nicht sehen. Ein Schwimmer ist schwer imstande, seine Position im Meer zu lokalisieren. Kotzebue war der Autor seiner Zeit, und er sagt über die Zeit merkwürdig wenig. Ganz andere Autoren, die kaum beachtet wurden, machen da plötzlich einen Riß in den Vorhang.

Ich will gar nicht dem unbekannten Genie das Wort reden. Es ist ungeheuer schwierig, sich selbst zu analysieren, noch schwieriger, die eigene Zeit genau zu fassen. Man kann mit großen Stangen im Nebel herumfahren, vielleicht trifft man auch etwas. Ich glaube, man kann nur dem nachgeben, was einen auf vielfältige Weise trifft, in der Hoffnung, daß wenn man das in einen Baum schnitzte, die Leute tausend Jahre später etwas entdecken, was man selbst gar nicht gefunden hat.

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