Prosit Neujahr 1993

■ Zur Schließung des italienischen Stahlwerkes in Bagnoli

Was sollen die Hochöfen am Vesuv? Die Frage ist berechtigt. Die Nachfrage nach Stahl kann auch anderweitig befriedigt werden - und eigentlich sollte dies die oberste Maxime des Wirtschaftens sein. Auf das Tief in den Miesen wirtschaftende Stahlwerk Bagnoli kann ohne weiteres verzichtet werden. Aber wer entscheidet über die 4.000 Stahler und ihre Arbeitsplätze? Mit welchem Recht maßt sich Bonn an, hier letztendlich durch die Blockade des römischen Sanierungskonzeptes über das Schicksal der Süditaliener zu entscheiden? Ganz einfach - mit dem Recht desjenigen, der nicht zur Rechenschaft gezogen werden kann. Und das ist zur Zeit System in der EG. Nach der Errichtung des Binnenmarktes dürfte es diesbezüglich erst richtig losgehen. So wie so manche Drittwelt-Regierung froh sein kann über den IWF, daß er die bequeme Legitimation zu Ausgabenkürzungen liefert und somit die eigene Kasse entlastet, so kann die römische Regierung sich jetzt in ihrer Einfallslosigkeit - in der sie sich nicht von ihren Partnerregierungen unterscheidet zurücklehnen und hinter den bösen Entscheidungen der Saupreußen im Norden verstecken. Die EG-Verwaltung spielt den Richter über Gut und Böse, ohne daß irgendein Parlament, das dem Bürgerwillen in Form von Wahlen ausgesetzt ist, wirksame Kontrolle in Brüssel ausüben könnte.

Der Landwirtschaftssektor bietet dieses Bild seit Jahr und Tag: Die Agrarminister sind zwar die Prügelknaben in ländlichen Wahlveranstaltungen, aber was ist leichter für sie als der Verweis „auf Brüssel“. Da wird der Zorn der Bauern zwar nochmal größer, aber ihre Ohnmachtsgefühle in gleichem Maße. Wer redet schon von der Europawahl? Zurecht niemand, auf kein Parlament trifft der Begriff der Schwatzbude mehr zu als auf dieses teuerste von allen.

Auch die unsinnigsten Entscheidungen über die Verursachung sozialer Kosten wie die Aufrechterhaltung von Pleiteschuppen im Stahlbereich sollten mit verantwortlichen Politikern debattierbar bleiben, weil sonst über sinnvolle Alternativen noch viel weniger zu befinden ist. Die Entscheidungsstrukturen in der EG verunmöglichen das. Demnächst geht es auch noch in allen möglichen anderen Branchen los. Da wird dann über die Automobilindustrie, über die Stromwirtschaft und anderes mehr (warum eigentlich nicht auch über den übersättigten Zeitungsmarkt?) von immer unkontrollierbareren Instanzen entschieden. Prosit Neujahr 1993!

Ulli Kulke